„Und? Warum genau bist du hier?“
Ich neige meinen Kopf zur Seite und blicke in das schöne Gesicht der Frau, die – ohne es geahnt haben zu können – meine Gedanken ausgesprochen hat.
Ich stehe vor dem kleinen Fenster des Raucherraums, bis eben noch starrte ich hinaus auf die Tanzfläche des Kellerclubs. Züge an der Gauloises. Nicht, dass man hier drinnen eine Zigarette anzünden müsste, um zu rauchen. Schlichtes Einatmen reichte vollkommen, doch die Gewohnheit hatte gesiegt.
Bis eben waren wir zu zweit, mein Bekannter und ich, beide mit Apfelwein in der Hand und Zigarette im Mundwinkel. Ganz sicher ließ sich unser Miteinander auch einmal etikettieren, doch war das Band unserer Freundschaft längst zerschnitten worden von der Klinge des Banalen. Nicht, dass wir es jemals böse miteinander gemeint hatten, nicht, dass wir uns je gestritten hätten.Doch schien die Vorliebe für laute Musik und Apfelwein allein auf Dauer nicht ausreichend für eine Freundschaft, und so waren wir eben schleichend in stiller Übereinkunft Bekannte geworden.
So stehen wir also hier, an diesem Samstagabend, in diesem stickigen Raucherzimmer mit dem Tischkicker – und haben uns außer “Prost” nicht viel zu sagen. Doch seit eben leistet uns diese fremde Frau Gesellschaft, und allein des Anstands halber sollte ich nun nicht länger schweigen. Denn immer noch blickt sie mich mit aufrichtiger Neugierde an und wartet auf eine Antwort.
Frankfurt lädt zum Tanz
“Weil ich nichts besseres mit meiner Zeit anzufangen weiß”, versuche ich es erst einmal im Scherz. Sie lacht, immerhin. “Echt jetzt?”
Tja, was sie wohl denken würde, wüsste sie, wie viel Wahrheit doch in meiner als kleiner Scherz getarnten Antwort steckte? “Na denn, zum Wohl!” sagt sie, Apfelweinglas stößt auf Bierkrug. Klock. “Aber mal im Ernst…”, ich erzähle irgendetwas von einem Kumpel, den ich lange nicht mehr gesehen habe und mit dem ich einmal wieder feiern gehen wollte.
Noch eine Zeit lang stehen wir schweigend nebeneinander, mein Bekannter, ich, und die unbekannte Dritte mit dem schönen Gesicht. Wir starren aus dem Fenster und sehen die sich im bunten Licht bewegenden Silhouetten, Bässe treffen auf Trommelfelle, Frankfurt lädt zum Tanz.
Gern hätte ich der Unbekannten die ganze Wahrheit erzählt, hatten sich meine Synapsen doch bereits auf die Suche einer Antwort auf ihre Frage aller Fragen begeben. Gern hätte ich ihr gestanden, dass ich selbst nicht genau weiß, warum ich eigentlich hier bin. Doch ist und bleibt die junge Frau eben Fremde, auch wenn sie immer noch lächelt, sogar während sie noch einen Schluck Bier nimmt.
Ich tue es ihr gleich, wer trinkt, der muss nicht reden, noch eine Zigarette anstecken, “hast du Feuer für mich?” – “na klar”. Ich werde nachdenklich, setze dabei selbst ein Grinsen auf. Ein Lächeln ist immer noch die beste Tarnung, diese Lektion hatte ich früh gelernt.
Kein Morgen mehr… oder doch?
Ja, vielleicht bin ich einfach nur hier, weil Samstagabend ist, weil ich ausnahmsweise frei habe, an diesem “Tage aller Tage”. Vielleicht, weil mich eine süße Erinnerung an durchtanzte Nächte hierher gelockt hat, weil ich nicht vergessen habe, wie auch ich einmal den Rausch genießen konnte. Vielleicht aber auch ganz einfach, weil ich nichts verpassen wollte. Es war ja schließlich Samstagabend.
“Also ich bin hier”, setzt meine Nebenfrau zur Erklärung an und reißt mich aus meinen Gedanken, “weil eine Freundin heute hier Geburtstag feiert”. Normalerweise sei das “nicht so ihr Laden”, sagt sie – und deutet ironisch mit dem Kopf schüttelnd auf die Tanzfläche, auf der einige gemeinsam, die meisten aber nur für sich selbst tanzen.
Ich würde lügen, würde ich behaupten, ich würde nicht gern tauschen wollen, mit all den verschwitzten Menschen da draußen vor der Scheibe. Gern würde ich so tanzen wie sie es taten, als ob es kein Morgen gäbe, niemals, als befände sich die Welt tatsächlich einmal nur hier und nur jetzt.
Allein: Ich kann es nicht. Nicht mehr, ich weiß es nicht. Ich vermag mich nur dunkel an das Gefühl erinnern, das ich noch spüren konnte, als auch einmal nichts weiter tat als inmitten einer fremden Menschenmenge zur Musik zu tanzen. An die Euphorie, die mich durchströmte, als ich mich inmitten einer fremden Menschenmenge zur Musik bewegte, bis es hell war. Bis ich nicht nur die Zeit, sondern auch alles vergessen hatte.
Vergessen wollen und vergessen sollen
Vergessen, nein, das kann ich längst nicht mehr. Und will es auch nicht, glaube ich. Welch Leben führte ich, würde ich es stets pünktlich zum Wochenende vergessen wollen?
Nein, deswegen bin ich ganz sicher nicht hier. Ich fühlte mich bis eben recht wohl in meiner Rolle des stillen Beobachters, doch nun fühle ich mich von den zwei dunklen Augen merkwürdig ertappt.
Ja, ich erinnere mich nur allzu gut an all die Verheißungen der Nacht, an das aufregende Gefühl, nicht zu wissen, wie und wo ein Abend enden wird. Doch ebenso gut erinnere ich mich an den Kater am Tag danach, an die nüchterne Erkenntnis, dass auch über die wildeste Nacht der Alltag zuverlässig und gnadenlos hereinbricht. Die Welt, auf die ich durch das kleine Fenster blicken kann, das weiß ich, ist eine Scheinwelt.
Was also mache ich hier? Ja, ich würde dieser Scheinwelt noch immer gern erliegen können, würde den Augenblick noch immer gern beschränken können, einzig auf Bewegung und Musik. Doch stünde ich nun auf der anderen Seite des kleinen Fensters, käme ich mir fehl am Platze. Tanzen würde vor allem mein schlechtes Gewissen, und zwar weit mehr als Tango.
Ich weiß genau, wie ich den morgigen Tag verbringen würde, ich weiß genau, während welch Sonnenstunden ich im Bett liegen würde, weiß, dass auch die längste aller Nächte die Sorgen aus dem Gestern hinein ins Morgen katapultiert. Zwar ist die Nacht verlockend, doch der Tag ist ehrlich.
So ist das wohl mit dem Älterwerden
Vielleicht bin ich tatsächlich allein aus einer Angst vor dem Verpassen hier. Vielleicht, weil sich in mir noch immer jene Sehnsucht verbirgt, die mich mahnt, bloß nichts zu verpassen: Die Unbekümmertheit, die kurzen, verschwitzten Berührungen, die U-Bahn am Sonntagmorgen. Das Bier am Kiosk, weil die nächste Bahn erst in einer halben Stunde kommt. Vielleicht ist das hier ein Versuch, Geschichten zu wiederholen.
Mit den unscharfen Bildern dieser Geschichten im Kopf leere ich mein Glas. Es wird das Letzte sein für heute, das weiß ich. Denn das schwerelose Gefühl der Unbekümmertheit würde sich auch nach fünf weiteren nicht mehr einstellen. So ist das wohl mit dem Älterwerden.
Männer brüllen hinter uns am Tischkicker, der längst mehr Abstellplatz für Bierflaschen denn Sportgerät ist. “Bis neulich bin ich noch durch Asien gereist”, verrät mir meine nächtliche Bekanntschaft. “Und dann kam wieder Frankfurt”.
Ich glaube zu ahnen, wie sich bei ihrer Wiederankunft gefühlt haben muss.
Nein, ich empfinde mich nach wie vor nicht als Spaßbremse. Nur empfinde ich mittlerweile an anderen Dingen Freude. Ich weiß nicht genau, ob ich das bedauern soll. Für diese Dinge muss ich nicht einmal um die halbe Welt reisen – bekanntlich fühle ich mich in Frankfurt nämlich ziemlich wohl. Auch, wenn das “Wollen” mitunter nicht immer einfach und eindeutig ist. Ich seufze.
“War nett, viel Spaß euch noch!”, verabschiedet sie sich. Ich bin mir sicher, dass ihr Weg sie nicht auf die Tanzfläche führen wird.
“Ja, war nett. Viel Spaß noch…” murmele ich, bevor auch ich mich verabschiede. Ich schreite zur Garderobe, nehme meine Jacke und gehe nach Hause. Es ist gerade einmal halb zwei.
“Morgen gehe ich ins Café”, beschließe ich, noch während ich auf der Zeil Grüppchen mit Musik aus dem Handy und Wodkaflaschen passiere. Ich werde klaren Kopfes die ersten Sonnenstrahlen dieses Jahres genießen und in meinem Buch lesen.
Und vor allem: Ich werde wissen, weshalb ich dort bin.
Oh, wie wohltuend, diese Reflektion!
Jenseits von „cool“, was viele mit Souveränität verwechseln.
Ein Streifzug im Leben. Auf der Suche nach der eigenen Definition des „Wahren, Schönen, Guten“.
Vielleicht war nicht mal diese Art von Musik genehm. Musik kann mitreißen. Hat dort wohl nicht funktioniert.
Und die Leute am Kicker muss man auch nicht bewundern. Die meisten spielen doch nur, um zu gewinnen.
Einer schönen Frau in die Augen gesehen, die etwas auslöste. Das ist doch eine Art von Gewinn. Manch einer erkennt nicht mal das.
Danke für diesen Einblick!
Dankesehr für deinen Kommentar, liebe Dagi!
Ja, Musik KANN mitreißen. Auch Menschen KÖNNEN das – wie wenige Wochen später geschehen. Stichwort: Nachtleben 😉
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