Harrys Frohes Fest

Unter den fünf Hallendächern des Frankfurter Hauptbahnhofs kreuzen sich jeden Tag hunderttausende Geschichten. Niemand hastet einfach so und ohne Anlass über das schwarze Fake-Marmor des Querbahnsteigs, noch nie hat der Zufall jemanden durch die Tore der berüchtigten Verkehrsdrehscheibe getrieben. Über tausend Züge bringen von hier aus Geschäftsleute zu ihren Geschäftsterminen, Liebende zu ihren Geliebten und Reisende zu ihren neuen Abenteuern. Nicht zu vergessen natürlich all die Eisenbahner, die inmitten all der Regsamkeit ihr Geld verdienen. Zwischen Gleis 1a und Gleis 24 sucht man nach Anschlusszügen, Rat und einer kleinen Stärkung, manch einer auch nur nach leichter Beute oder einem Schlafplatz für die nächste Nacht. Über all jenen wacht Atlas, der die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern trägt.

Auch Harry befand sich auf der Suche. Als junger Mann war er jemand, den man gerne einen „Schönling“ nannte, die Frauen mochten sein sorgsam zurückgekämmtes, schwarzes Haar, die tiefbraunen Augen mit dem wachen Blick. Beinahe hätte man ihn für einen Italiener halten können. Nun hatte der Zahn der Zeit freilich auch nicht vor Harry Halt gemacht. Der verbliebene Haarkranz auf dem Kopf hatte längst eine schneeweiße Farbe angenommen, und wie Harry morgens im Badezimmerspiegel feststellen musste, war der neugierige, fordernde Ausdruck seiner Augen einer Müdigkeit gewichen, die er sich selbst nicht erklären konnte. Auch die Gelenke machten nicht mehr mit, er machte, wie er fand, eine jämmerliche Figur.

So sah man ihn also in gebückter Haltung über die Bahnsteige des Hauptbahnhofs schlendern, im Zeitungkiosk, sich Zucker in den Kaffee rühren, an der Würstchenbude oder – ab dem späten Nachmittag – auf einer der Bänke sitzend, ganz vertieft in „seine“ Frankfurter Rundschau. An sieben Tagen in der Woche, ein „Wochenende“ gönnte er sich nie. So wie die große Abfahrtstafel in der Haupthalle oder die obligatorische, umgekehrte Wagenreihung war Harry über die Jahre hinweg ein Teil des Bahnhofsalltags geworden.

Den Zügen und Lokomotiven schenkte Harry ein ganz besonderes Augenmerk. Es hatte sich so viel verändert! Wehmütig dachte er an „seine Zeit“ zurück, als noch die stolzen Elloks der Baureihe 103 InterCity-Züge mit wohlklingenden Namen an den Prellböcken zum Halten brachten. All das war lange her; ein Vierteljahrhundert war seit seiner letzten Fahrt vergangen. Harry dachte oft an den Moment zurück, als er zum letzten Mal mit seiner Lokomotive am Stellwerk vorbeizog, als sein Zug ein letztes Mal langsam unter dem Schatten des Hallendachs verschwand, während der Prellbock von Gleis 9 unaufhaltsam näher rückte. Ein letztes Mal hatte er zum Führerbremsventil gegriffen, ein allerletztes Mal sicher und ruckfrei angehalten. Nicht nur einmal hatte er in den Jahren zuvor von diesem Moment geträumt und war schweißgebadet aufgewacht. Nun war es so weit gewesen. Zack, aus, vorbei. Eine kleine Delegation des Bw1 hatte ihn in Empfang genommen; der Personalrat lobte Harrys Verdienste für die Bundesrepublik, der Dienststellenleiter überreichte Blumen und einen kräftigen Händedruck. Harry hasste Blumen.

In den nächsten Wochen wurde Harry traurig. Nicht wegen der Blumen, die waren längst verwelkt – aber statt den „besten Jahren“, wie es immer hieß, brachen düstere Tage über ihn hinein. Anfangs hatte er sich noch mit Freude seinem über die Jahre auf die Ausmaße eines kleinen Wolkenkratzers gewachsenen Bücherstapel gewidmet: Hermann Hesse, J.M. Simmel, Stephen King. Doch irgendwann war auch das letzte Buch gelesen. Harry unternahm Spaziergänge an der Nidda, bis er jeden Grashalm beim Namen kannte, staubte die Vitrine mit den Modellen „seiner“ 103 ab, bestellte lächerliche Massagegeräte bei einem Shoppingsender. Eines Tages hielt er die Schwere nicht mehr aus, die ihn befallen hatte. Er verließ seine kleine Zweizimmerwohnung in der Eisenbahnersiedlung Frankfurt-Nied und machte sich auf zum S-Bahnhof. Den Weg kannte er blind. Es fühlte sich eigenartig an, wieder in einem Zug zu sitzen, doch als ihn der kieselgrau-orange Triebwagen auf den Tiefbahnsteig von Gleis 102 spuckte, fühlte er sich wie elektrisiert: Harry war zurück am Hauptbahnhof.

So folgten fortan alle seine Tage demselben Ritual. Nachdem er ausgeschlafen hatte – vor neun Uhr stand er selten auf – drehte er eine Runde um den Block, machte Besorgungen und bereitete sich anschließend ein kleines Frühstück zu. Die Haferflocken sogen sich voll Milch, schmierige Schlagersänger sangen auf HR 4 über die Liebe. Wenn ihn früher Kollegen auf den Umstand angesprochen hatten, dass er Junggeselle geblieben war, hatte Harry zu scherzen gepflegt: „Ich bin doch schon mit der Eisenbahn verheiratet!“ Nun musste er sich eingestehen, dass sein Spruch eine traurige Wahrheit beinhaltete. Nach den 12-Uhr-Nachrichten kämmte sich Harry das weiße Haar wie einst sorgsam zurück, nahm den olivgrünen Anorak von der Garderobe und polierte seine besten Schuhe. Dann trat er seinen „Job“ an.

Am Hauptbahnhof angekommen, ließ sich der alte Mann erst einmal treiben. Oft musste er aufpassen, nicht von rücksichtslosen Reisenden überrannt zu werden. Dass es die Leute heute auch immer so eilig hatten! Früher, grollte er, nahm man noch Rücksicht auf alte Menschen wie ihn. Immer wieder blickte er sehnsüchtig den ausfahrenden Zügen hinterher. Wenn sich die Türen schlossen und der Aufsichtsbeamte zur Säule schritt, um den Abfahrtsauftrag zu geben, schluckte er. Ihm würde niemals wieder jemand einen Abfahrauftrag erteilen.

Hin und wieder hielt er einen Plausch mit seinen „Kollegen“. In den ersten Jahren war er häufig noch alten Weggefährten begegnet, tauschte Anekdoten von den guten, alten Zeiten aus. Erzählte, wie er damals auf der Riedbahn mit acht klotzgebremsten Silberlingen trotz einlösiger Bremse ruckfrei zum Stehen kam. Wie er als junger Lokführer am Hauptgüterbahnhof auch mit 40 Achsen „ohne Luft“ sanft beifuhr, wie er mit der E50 bei Wind und Wetter 3000 Tonnen Heizöl über die Spessartrampe zerrte, wie er mit dem TEE nach München einmal 30 Minuten Verspätung herausgefahren und die 103 am Fahrtziel beinahe AW-reif übergeben hatte. Die letzte Geschichte war gelogen, aber wen kümmerte das schon.

Doch im Laufe der Zeit traf er immer seltener auf bekannte Gesichter. Auch die Haudegen von einst wurden nicht jünger, setzten sich nach und nach zur Ruhe. Verabschiedeten sich in ihre Rentnerdomizile, pflanzten Gurken und Tomaten an, saßen mit der Gattin auf der Terrasse, spielten mit den Enkelkindern oder wenigstens Boule im Park. Allein Harry war übriggeblieben, ein gebückt durch den Bahnhof schlenderndes, olivgrünes Relikt der guten, alten Bundesbahn. Die Eisenbahner von heute waren anders, sie trugen schicke Uniformen, wirkten freundlich, aber gleichsam distanziert. Der Stolz schien ihnen auf eigentümliche Weise abhandengekommen. Oft blickten sie Harry skeptisch an, wenn er sich als einer von ihnen zu erkennen gab. Dann holten sie ihre Mobiletelefone aus der Tasche und wischten darauf hin und her, antworteten knapp oder täuschten Beschäftigung vor. Nur selten nahm sich einer Zeit, Harry länger zuzuhören. Immerhin, die Sprüche waren geblieben: „Das ist nicht mehr meine Eisenbahn!“, das hatte sein Lehrlokführer schon in den Fünfzigern gesagt.

Klar, es war nicht alles schlecht. Harry mochte das neue Dach des Hauptbahnhofs, besonders im Sommer, wenn die Sonne hell und freundlich durch die Scheiben fiel. Kein Vergleich zu damals, als das rußgeschwärzte Glas die Bahnsteige in schwarzgraue Tristesse tränkte. Auch die Bahnsteige wirkten sauber und modern, wenn auch der grassierende Reinlichkeitswahn Harry manchmal in Rage brachte. Daran, dass man nur noch in gelben „Hühnerkäfigen“ rauchen sollte, wollte er sich nicht gewöhnen. Harry rauchte überall, so wie sich das gehörte, und nahm den ein oder anderen Rüffel gern in Kauf.

Was er jedoch schmerzlich vermisste, waren die ratternden Fallblätter der Zugzielanzeiger. Stattdessen wurde die Bahnhofshalle mehr und mehr von einer unverständlichen und nervenzehrenden Kakophonie aus automatischen Ansagen geflutet, manchmal musste sich Harry die Ohren zuhalten, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Nachdem Harry seine Runde gedreht und Smalltalk mit „Kollegen“ geführt hatte, holte er sich einen Kaffee bei Bäcker Eiffler, „gern mit e bisscher Milch“. Am Kiosk kaufte er sich eine Tageszeitung und wechselte ein paar freundliche Worte mit den Verkäuferinnen.

Nach der Lektüre nahm er eine Analyse des Betriebsablaufs vor: Wo waren die Anschlusszüge weg, wo die Wagenreihung umgekehrt, wo Ersatzzüge im Einsatz? Harry stand parat, wusste, wo die Luft brennt. Er entwickelte ein Gespür dafür, wann ein ratlos um sich blickender Reisender seine Hilfe brauchte. Dann gab er Verbindungsauskünfte (den jeweiligen Jahresfahrplan hatte er im Kopf), geleitete zu reservierten Sitzplätzen, zeigte den Weg zum Fundbüro. Manchmal bekam er zum Dank ein Geldstück in die Hand gedrückt, das er der Bahnhofsmission spendete. Wenn eine Lampe einmal streikte, war Harry der Erste, der den Defekt bemerkte. Freundlich wies er das Servicepersonal zur Reparatur an.

Nach Feierabend aß er in der Kantine zu Abend, die sich neuerdings „Casino“ schimpfte. Als Pensionär genoss auch er die erschwinglichen Preise und das täglich wechselnde, meist immerhin mittelgute Stammessen. Zumeist saß er allein am Tisch. Wenn er nach Hause kam, schaltete er augenblicklich den Fernseher an, er ertrug die Stille in der Wohnung nicht. Er trank zwei Gläser Meisterschoppen – mehr erlaubte der Arzt nicht – und zappte ein wenig durch das TV-Programm, das auch nicht mehr war, was es mal war. Dann ging er zu Bett und dachte daran, wie schön es war, gebraucht zu werden. Man brauchte ihn doch am Hauptbahnhof. Oder etwa nicht? Meist war er eingeschlafen, ehe er eine Antwort gefunden hatte.

So vergingen also 25 Jahre, in denen sich Harry mit der Gewissenhaftigkeit eines Deutschen Beamten auf den Weg zum Bahnhof machte. Nur wenige Male litt er an heftigen Erkältungen und anderen Wehwehchen, dann lag er auf dem Sofa, hatte ein schlechtes Gewissen und sehnte sich nach seiner Eisenbahnerfamilie vom Hauptbahnhof, der netten Frau vom Zeitungskiosk und der flinken Mannschaft der Bäckerei. Mal ganz zu schweigen von den Lokomotiven, die ihn noch immer faszinierten und denen er mit einer Mischung aus Wehmut und Stolz hinterher sah. Es wurde Winter, Frühjahr, Sommer, Herbst am Hauptbahnhof. Menschen, Momente und das Millennium flogen nur so vorbei. Bahnchefs, Krisen und Pandemien kamen und gingen, Harry blieb.

Doch in der Adventszeit 2022 änderte sich plötzlich seine Stimmung. Wie jedes Jahr hatte man den Hauptbahnhof festlich geschmückt, Lichterketten schmückten Pavillons und Tragwerke, kleine Tannenbäume funkelten von der Fassade des Empfangsbaus herab. An jedem Sonntag spielte eine Blaskapelle Weihnachtslieder vor dem Adventskalender, den man in der Haupthalle aufgestellt hatte. Obwohl der Bahnhof in diesen Tagen weniger Hektik als sonst versprühte, wirkten die Menschen eigenartigerweise noch gestresster, wenn sie bepackt mit schweren Koffern und Tüten über den Bahnsteig hetzten. Immer wieder bekam Harry zum Dank Schokoladenweihnachtsmänner zugesteckt, wenn er einer Dame beim Fahrkartenkauf behilflich war oder einen Zugbegleiter darum bat, noch einige Sekunden mit dem Schließen der Tür zu warten. Harry mochte keine Schokolade, und doch bedeutete ihm die Wertschätzung so viel. Trotzdem wurde sein Herz ein wenig schwer. Er konnte sich nicht genau erklären, was passiert war – aber es schien, als habe sich die Umlaufbahn seiner kleinen Welt um einen Millimeter geändert. Als sei in einem Schweizer Uhrwerk ein winziger Zahn eines Zahnrades gebrochen, als tickte die Zeit nicht mehr ganz richtig.

In diesen Tagen, als Harry häufig müde auf einer Bank saß und auf die Lichterketten starrte, bis sich funkelnde Punkte in seine Netzhaut brannten, reifte in Harry eine Idee heran. In einer Woche war Heiligabend – und er würde sich selbst mit einem Geschenk überraschen.


In der Nacht zum 24. Dezember 2022 schlief der alte Beamte unruhig. Immer wieder ging er in Gedanken das Gespräch durch, das er heute führen würde. Auf dem Weg zum Hauptbahnhof lächelte er und starrte auf den Schnee, der die Gleise des ICE-Werks mit weißem Puder bedeckt hatte. Der Stromabnehmer eines ICE 3 schlug an der vereisten Oberleitung Funken. Wann hatte er zuletzt weiße Weihnachten erlebt?

Am Ende seines „Arbeitstages“ suchte Harry nicht wie sonst die Kantine auf. Der Bahnhof war verlassen, kaum ein Reisender mehr zu sehen. Eine Truppe von Polizisten schritt mit grimmigen Gesichtern am Bahnsteig entlang; sie machten keinen Hehl daraus, dass sie gerade lieber bei ihrer Familie wären, statt Dienst zu schieben. Harry hob die Hand zum Gruß und wünschte Frohe Weihnachten. Als die Beamten außer Sichtweite waren, rauchte Harry zwei Zigaretten am Stück gegen die Aufregung. Pünktlich um 18.35 rollte der Intercity 2323 auf Gleis 16 ein, der Zughaken und die Luftleitungen der Lokomotive waren von Eisklumpen verdeckt. Als sich die Tür zum Führerstand öffnete, war Harrys Moment gekommen. Der Lokführer, ein junger Mann mit Irokesenschnitt und blond gefärbtem Haar, bemerkte ihn zunächst nicht. „So einen hätten sie bei der Bundesbahn aber nicht frei herumlaufen lassen!“, dachte Harry und besann sich auf seinen Plan. Er trat an den Mann mit der merkwürdigen Frisur heran. „Entschuldigung?“

Der Lokführer schien ihn nicht gehört zu haben. Offensichtlich hörte er Musik, denn er hatte zwei dieser neumodischen Stöpsel im Ohr stecken. Harry ließ sich nicht beirren und gestikulierte mit den Händen. Nun sah der junge Mann zu ihm auf und befreite sein Ohr vom Technikgedöns. „Ich bin hier nur der Lokführer, wenn Sie eine Auskunft brauchen, dann…“, begann er, doch Harry wiegelte ab. „Die besten Auskünfte erteile hier noch immer ich!“, begann er zu lachen. Der junge Kollege wirkte irritiert und sah ihn ein wenig unbeholfen an. „Frohe Weihnachten erstmal!“, wünschte Harry, während er ein altes Polaroid aus seiner Geldbörse nestelte. „Ich weiß, du möchtest an Heiligabend nicht von einem alten Mann belästigt werden. Doch ich bin einer wie du und habe einen Wunsch!“

Harry hielt dem Lokführer das schwarzweiße Foto vors Gesicht. Es zeigte ihn in seinen besten Jahren, wie er sich aus dem Seitenfenster seiner 103 beugte und den Bremszettel entgegennahm. Im Hintergrund zeigte die große Bahnhofsuhr am Stellwerk zehn nach Eins. Die Mine des Lokführers entspannte sich. „Oh, ein Kollege also! Ich wusste nicht, dass… Was kann ich denn für dich tun?“ Harry eröffnete ihm seinen Weihnachtswunsch. Nur einmal kurz, bat er, würde er gerne Platz auf dem Führersitz nehmen. Es würde auch nicht lange dauern. Nun lächelte der junge Mann, drehte sich um, öffnete die Tür der weißen Lokomotive und machte eine auslandende Geste: „Na denn hereinspaziert!“

Es dauerte ein wenig, bis Harry die Trittstufen genommen hatte. Seine Knie zitterten, als er sich mit einem Ruck die Griffstange hochzog und den Führerstand betrat. Sofort fiel ihm der Geruch auf, der so anders war als bei den alten Elektroloks. Irgendwie wie Plastik. Harry erschrak beinahe, als er in den Führersitz sank und dieser sein Gewicht sanft auffing. Die waren ja sogar gefedert heutzutage! Irre. Kein Vergleich zu den brettharten Schemeln, auf denen er selbst seinen Dienst verrichtet hatte. Er staunte, als er sah, dass dort, wo sich einst das MFA befunden hatte, nur mehr ein Display übrig war. Und, überhaupt: Das gesamte Pult war voller Displays! Harry strich über den Fahrschalter, berührte vorsichtig das Führerbremsventil und traute sich nicht zu fragen, wo denn der E-Bremssteller geblieben war.

So saß Harry einfach da, die linke Hand auf dem Fahrschalter und den Blick aus dem Frontfenster gerichtet. Er hätte nicht sagen können, ob für fünf Minuten oder Stunden. Das hier war sein Platz und würde es immer bleiben. Der Lokführer saß auf dem Beimannsitz und ließ ihn gewähren. Eine Träne kullerte Harrys Wange hinab, als er aufstand und dem jungen Mann die Hand reichte. Sein Händedruck, dachte er, war auch mal kräftiger. Aber so war das eben mit dem Älterwerden. „Ich danke dir so sehr!“, verabschiedete er sich. „Du hast einem alten Mann gerade eine große Freude gemacht. Einen ordentlichen Haarschnitt solltest du dir trotzdem verpassen lassen, aber vorher brauch´ ich deine Hilfe!“

Der Lokführer hielt ihn an den Oberarmen fest, bis Harry wieder festen Boden unter den Füßen hatte. „Und nun schnell ab zu deinen Liebsten, es ist schließlich Heiligabend!“, sagte Harry und gab dem jungen Mann einen Klaps auf die Schulter. Sein Plan war aufgegangen.
Der junge Kollege entschwand in Richtung der U-Bahn, und auch Harry stand bereits auf der Rolltreppe hinab zur S-Bahn, als er einen weiteren Plan fasste. Heute würde er seinen geliebten Apfelwein nicht allein trinken!

Kaum unten angekommen, machte Harry auf dem Absatz kehrt und fuhr wieder hinauf. Er verließ den Hauptbahnhof, überquerte die Straße und betrat das Bahnhofsviertel. An Heiligabend wirkte sogar das berüchtigte Viertel ein wenig friedlicher als sonst, nur einige verlorene Gestalten saßen auf dem Bürgersteig und starrten in den Nachthimmel. Nach fünf Minuten stand er vor dem „Moseleck“, wo er früher das ein oder andere Feierabendgetränk mit seinen Kollegen zu sich genommen hatte. In den Mosaikfenstern der Kneipe strahlten Lichtersterne, das schmutzige Schild über dem Eingang versprühte noch mehr Patina als bei seinem letzten Besuch: „Warme Küche – geöffnet von 06.00 – 04.00 Uhr Früh“.

Harry trat ein und rieb sich die Hände. Er genoss die Wärme der Gaststube und blickte unsicher umher. Es schien, als sei er nicht die einzige verlorene Seele, die Heiligabend nicht allein verbringen wollte. Die emsige Kellnerin flitzte mit vier Gläsern Binding in Richtung von vier Herrschaften, die sich dem Kartenspiel gewidmet hatten und sich Begriffe zuriefen, die Harry nicht verstand. Zwei Männer stritten sich an der Jukebox: „Wenn du noch ein einziges Mal „Driving Home for Christmas spielst, dann hau´ ich dir aufs Maul!“, unterband der Eine den Versuch des Anderen, die Weihnachtsstimmung etwas anzuheizen. Harry suchte sich einen freien Platz am Tresen und entledigte sich seines grünen Anoraks. Kurze Zeit später stand ein Glas Apfelwein vor ihm. „Frohes Fest“, sagte Harry leise zu sich selbst, nahm einen Schluck und lächelte. Er hatte noch mal vorne rechts gesessen. Dort, wo er hingehörte.

„Wenn ich´s Ihnen doch sage, der gute Kerl hat nur gesagt, dass er müde sei und nur mal kurz die Augen zumachen müsse!“ – die Kellnerin wirkte aufgeregt und zog nervös an ihrer Zigarette, während sie die Frage der Beamten zum x-ten Mal beantwortete. „Es gab also keine Anzeichen, dass sich der Herr in einer medizinischen Notlage befand?“, fragte der Wortführer der beiden Polizisten und machte sich Notizen auf einem Klemmbrett. „Ei, ich hab´s doch schon so oft gesagt: Der hat wirklich ganz normal auf mich gewirkt! Der hat einfach seinen Schoppen getrunken, und plötzlich hat er sein´ Kopf aufm Tresen abgelegt. Ich hab´ noch gefragt, ob alles gut sei, da sagt er jaja, ihm gings gut, er sei nur müd. Der hat auch net aufgeregt gewirkt oder so, wenn ich mich so erinner´, dann hat er sogar ganz glücklich geguckt, wenn net gar gelächelt!“

Der Kommissar nickte knapp. „Gut, Frau Evanowa, das war´s dann erst mal!“
Dann wandte er sich dem Notarzt zu, der den Tresen dazu benutzte, um den Totenschein auszufüllen. „Nichts mehr zu machen, gell?“ Der Mediziner schüttelte mit dem Kopf. „Keine Spuren von äußerer Gewalteinwirkung zu erkennen. Scheint so, als wäre Harald Nickel einfach für immer eingeschlafen.“

So trat der Lokomotivbetriebsinspektor seine allerletzte Reise an. Die Polizeibeamten und die Kellnerin standen vor der Kneipe und blickten dem Leichenwagen hinterher, bis er auf der Höhe des Hauptbahnhofs in der Dunkelheit verschwand. Es hatte wieder zu schneien begonnen, zarte Flocken segelten auf das harte Pflaster des Bahnhofsviertels. Von drinnen waberte ein Lied herüber, die Jukebox spielte „Driving Home for christmas“. Auf dem Vorfeld des Hauptbahnhofs gellte ein Pfiff.

Drohnen-Show zur Eröffnung der neuen Altstadt: Ein epochaler Moment?

Über sechs Jahre hinweg wurde auf dem Gelände des ehemaligen technischen Rathauses gebaggert, gewerkelt und getüftelt. Knapp 200 Millionen Euro wurden investiert, um an Stelle des brutalistischen Ungetüms mit 35 originalgetreuen Neubauten der Stadt Frankfurt ihr historisches Herz zurück zu geben. 

Nachdem schon im Mai 2018 die Bauzäune gefallen sind und die neue Altstadt für die Öffentlichkeit freigegeben wurde, fand die große Sause zu deren nun-aber-wirklich-ganz-offiziellen Eröffnung am letzten Septemberwochenende statt. 

Neben einem Musikprogramm auf zwei Bühnen, diversen Ausstellungen in dem Areal benachbarten Institutionen und den üblichen Fress- und Saufbuden sollte eine bislang nie dagewesene Drohnen-Show zwischen Eisernem Steg und Untermainbrücke den Höhepunkt der Feierlichkeiten bilden. Etwa 350.000 Euro wurden abermals investiert, um 110 Drohnen ein Lichtspektakel in den Frankfurter Nachthimmel zu zaubern. Klar, dass auch ich mir dieses nicht entgehen lassen wollte! 

Es ist schon halb zehn am Abend, noch eine Viertelstunde bis zum offiziellen Beginn der Drohnen-Show. Zuvor hatte ich bereits versucht, mich vor den Bühnen und in den engen Gassen der neuen Altstadt zu amüsieren. Mit zweifelhaftem Erfolg: Ein derartiges Gedränge war mir bislang allenfalls vom Museumsuferfest bekannt; aufgrund des exorbitanten Stress-Levels war ich kurzerhand zum Wasserhäuschen “FEIN” geflüchtet und hatte noch einige Espresso getrunken, um mir die Zeit auf ganz und gar entspannte Art und Weise zu vertreiben. 

Nun aber stehe ich mit meinem Freund Boris irgendwo am Sachsenhäuser Mainkai, dicht an dicht gedrängt mit anderen Neugierigen.

Auf Bewegungsfreiheit, das ist mir klar, darf ich immer noch nicht hoffen. “Scheiße, ich hab’ meine Pizza vergessen!”, mein Kumpel deutet auf einen Mann in Jeansjacke, der sich die Wartezeit bis zum Abflug der Drohnen mit dem Leeren seines dampfenden Pizzakartons vertreibt.

Links brüllt ein kleiner Frankfurter auf den Schultern seines Papas, von hinten dröhnen Lautsprecherdurchsagen der Polizei: “Fahren Sie sofort weiter! Wer hier mitten auf der Straße parkt, wird abgeschleppt!”. Eine Hintergrundkulisse, die einer angebrachten Sentimentalität eher hinderlich ist. 

“Wenn ich an Frankfurt denke, denke ich an Goethe. An Apfelwein, den Römer, die glitzernde Skyline…” 

Zeitgleich mit den den Nachthimmel zerreißenden Scheinwerfern beginnt die akustische Untermalung der Show. Allenthalben werden Smartphones gezückt, eine Krankheit der Neuzeit. Die Drohnen heben ab, sausen zunächst im Schutze der Dunkelheit weit hoch über den Main, formieren sich zu recht eindrucksvollen Motiven. Das U-Bahn-Zeichen, die Waage der Justitia, Goethe und der Struwwelpeter. Als die Fluggeräte den Europa-Pokal der Eintracht formen, brandet Jubel über die Mainufer. 

Das, finde ich, ist schon recht nett anzusehen. Doch so richtig flashen will mich diese Darbietung nicht.


Das mag vielleicht daran liegen, dass wir Frankfurter in Sachen Lichtspektakeln schon außerordentlich verwöhnt sind – man denke nur an das jährliche Feuerwerk des Museumsuferfests oder die unvergessene Laser-Show zum 25. Tag der Deutschen Einheit im Herbst 2015. Vereinzelt wird geklatscht, ich klatsche eifrig mit – aber: Berühren tut mich das Gesehene kaum. 

Kurz fühle ich mich ein wenig schlecht und undankbar: 
Hey, fährt meine Stadt nicht gerade alle Geschütze auf, um mich mitzureißen? Ist dies hier nicht gerade jener epochale Moment, von dem ich noch meinen Enkeln erzählen werde, wenn ich mit ihnen durch die Straßen der Altstadt spazieren werde? 

Vielleicht liegt es ganz einfach daran, dass die Baustelle der Altstadt über die Jahre hinweg nicht hinter einem Vorhang stattgefunden hat, sondern dass die Bauzäune und wachsenden Fassaden über die Jahre hinweg wie selbstverständlich zum Frankfurter Alltag gerieten. Vielleicht auch daran, dass heute eben doch nicht der “Tag X” ist, weil schon fünf Monate zuvor das Gelände “unter der Hand” an die Öffentlichkeit übergeben wurde, weil schon im Mai Oberbürgermeister Feldmann den Krönungsweg beschritten hatte, weil er schon damals seine – Achtung, ich liebe dieses Wort! – Amtskette getragen hatte. Vielleicht, weil ich die Straßenzüge der neuen, alten Stadt schon längst aus dem Effeff kenne und der Reiz des neuen Viertels ein wenig totdiskutiert wurde. 

Ein Disneyland für Touristen, ein Viertel, das einst ein Elendsort gewesen sei, dem doch nicht nachgeeifert werden dürfe. Steuergeldverschwendung, Wohnungen allein für Bestensverdienende. Alles tausendmal gelesen, alles tausendmal gehört.

Aber dennoch:

Die Straßenzüge des nicht einmal einen halben Quadratkilometer umfassenden Viertels werden fortan zu dieser Stadt gehören, ihr Pflaster wird noch viele Sohlen küssen. Die neue Altstadt, sie ist von nun an Teil meiner Heimatstadt, ab heute, zumindest offiziell. 

Doch kommt mir die Auswahl des heutigen Datums ein wenig willkürlich vor, so, als hätte sich ein Pärchen im Nachhinein auf einen Tag ihres Zusammenkommens geeinigt. Ich hätte wirklich gerne meinen Nachkommen vom heutigen, großen Tag berichtet – was aber bleibt, sind die Drohnen, die nach nicht einmal zwanzig Minuten zum Landeanflug ansetzen. Die Willkommensgrüße in mehreren Sprachen, beschlossen vom hiesigen “Ei, Gude!”


Wer nicht selbst dabei sein konnte, freut sich über dieses Video des hessischen Rundfunks

Die Pizza des Nebenmanns ist aufgegessen, die gesetzwidrigen Straßenparker haben sich entfernt. Die Altstadt ist – nun aber wirklich! – eröffnet und fortan Teil meiner Heimat, ich blicke in das Gesicht meines Freundes Boris. “Und jetzt?” – der Abend ist schließlich gerade einmal angebrochen. “Jetzt trinken wir Bier!”, sagt Boris. “Oder auch einen Apfelwein”, füge ich hinzu. Wir marschieren davon in Richtung Alt-Sachsenhausen. Auch dieses Viertel gehört seit jeher zur Stadt. Wann und unter welchen Umständen es wohl eröffnet worden sein mag? 

Ich habe keine Ahnung, will mir aber auch keine Gedanken darüber machen. Noch während wir in der Wallstraße verschwinden wünsche ich mir, dass es auch der neuen Altstadt so ergehen mag. Mögen auch meine Enkel Frankfurts jüngstes Viertel als selbstverständlichen Bestandteil ihrer Stadt betrachten und sich an ihm freuen. Darauf einen Apfelwein.





“Leben im Konjunktiv”: Eine Kurzgeschichte für graue Tage

Wenn sich Äste im Wind biegen und nasskalter Regen gegen die Scheiben klatscht, ist es an der Zeit, der Welt da draußen den Mittelfinger zu zeigen und sich in diejenige der Buchstaben zu flüchten. Findet ihr nicht auch? 

Ich jedenfalls habe die ersten Herbsttage dazu genutzt, Phantasie und Gedanken kreisen ein wenig kreisen zu lassen. Herausgekommen ist eine Kurzgeschichte, die hoffentlich auch euch ein wenig Unterhaltung an tristen Tagen bietet. 

Viel Freude beim Einkuscheln,  Lesen und Sinnieren! 


Der Anblick der weißen Decke über mir hat sich längst in meine Netzhaut eingebrannt, auch das Summen der eigenartigen Maschine zu meiner Linken nehme ich kaum noch wahr. Gedanken lullen mich ein, und ich wünschte, die andere weiße Decke würde es ihnen gleichtun. Stattdessen liegt sie auf mir wie ein Fremdkörper, weigert sich standhaft, sich meinem Körper auch nur einen kleines Bisschen anzuschmiegen. Das kam wohl dabei raus, wenn man Wäsche steifte. Oder sollte etwa Ich der Fremdkörper in diesem Bett sein?

Vielleicht war es tatsächlich so, vielleicht würde sich die Decke tatsächlich einer jeden Pore anpassen, würde sanft verschlucken, bedeckte statt meines einen anderen Körper. Vielleicht, da hab‘ ich einfach Pech gehabt. Schließlich war ich doch nur haarscharf daran vorbeigeschrammt, ein anderer Mensch zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich wurde, wer ich bin, war schließlich mikroskopisch klein: Nur eine Einzige von 300 Millionen Spermien konnte das Wettrennen zu einer kleinen Eizelle gewinnen, konnte im Urknall allen menschlichen Daseins meine Genetik beschließen, endlose DNA-Ketten zu meiner Existenz verweben. Dass ich letztlich nicht als eines von 299.999.999 anderen Individuen das Licht der Welt erblickte, war nichts als Zufall. Nach aller Regel der Wahrscheinlichkeit wäre ich jemand völlig anderes geworden.

In einem Anfall innerlicher Unruhe drehe ich mich nach rechts. Ich will die weiße Decke nicht mehr sehen, will die gestärkte, weiße Decke nicht mehr fühlen. Lieber starre ich auf den leeren Besucherstuhl neben meinem Bett. Schmerz durchfährt mich, der Verband um meinen Kopf macht die kleinste Bewegung zur Qual. Ich presse meine Kiefer aufeinander und denke nach. Wie wäre mein Leben wohl verlaufen, wäre aus der Trommel der Fortpflanzungslotterie einer von fast dreihundert Millionen Anderen gezogen worden? Wäre dieser Mensch mir ähnlich, zumindest hier wie dort? Würde er meine Sehnsüchte teilen, dieselben Gedanken denken? Würde genau dann lachen oder an Nichtigkeiten verzweifeln, wenn auch ich es täte? Oder aber wäre er all das, was ich nicht war – ein Negativbild meiner selbst?

Hätte auch er damals im Bett gelegen und an die Decke seines Kinderzimmers gestarrt? Hätte auch er von der großen Freiheit geträumt, während er zum tausendsten Mal die Astlöcher der Holzbalken über ihm zählte? Jener großen Freiheit, die er endlich atmen würde, wenn er erst einmal sein Elternhaus verlassen hätte? Hätte auch dieser jemand Andere sich immer wieder ausgemalt, wie schön erst alles würde, wären seine Fesseln erst gesprengt? Ja, hätte auch er Rebell gespielt, sich grundlos mit seinen Lehrern angelegt und keine Provokation ausgelassen, weil er doch nichts mehr hasste als die Schule? Hätte auch er sich von niemandem verstanden gefühlt, am wenigsten von seinen Eltern? Hätte auch er den Tag herbeigesehnt, an dem er Schule und Elternhaus den Rücken würde, jener Stunde Null, in der sein wahres Leben beginnen würde, in der aus dem „Wollen“ ein „Sollen“ würde? Hätte auch er, bevor er abends einschlief, sich selbst als jungen Adler vorgestellt, der im Horst saß und darauf lauerte, seine Flügel auszubreiten?

Hätte auch er irgendwann sein Abitur gemacht, mehr schlecht als recht? Allein, um dieses Studium zu beginnen, für das er in diese fremde Stadt gezogen wäre? Jenes Studium, für das er sich allein deswegen entschieden hätte, weil der Numerus Clausus ihm keine andere Wahl gelassen hatte? Wäre auch dem Anderen jedes Mittel recht gewesen, um seinem Heimatdorf den Rücken zu kehren – selbst die Lehre der Betriebswirtschaft? Hätte auch er während der vielen Stunden im Auditorium keinerlei Leidenschaft verspürt, hätte einen subtilen Hass auf all die Zahlen, Graphen und Funktionen entwickelt? Hätte er auch er nur mühsam seinen Frust hinunterschlucken können, während er am späten Abend in der Bibliothek an seinen Hausarbeiten schrieb? Und hätte auch er sich dennoch tapfer durchgebissen, sich wieder und wieder vor Augen geführt, dass dieses gottverdammte Studium nun einmal die Basis seiner ersehnten Unabhängigkeit sei? Ein solides Fundament für seinen Glückspalast, gegossen in tiefschwarzem Beton des Fleißes, von Stahlstreben der Hartnäckigkeit durchzogen? „Ohne Fleiß kein Preis“: Hätten auch dem Anderen die Worte seines Vaters in den Ohren gehallt? Hätte auch er tatsächlich geglaubt, alles was ihm fehle, sei ein verfickter metaphorischer Grundstein?

Mein Nacken schmerzt, ich spüre ein Brennen hinter meiner Stirn. Das Jetzt, ich will es nicht, ertrag’ es nicht, nicht jetzt. Lieber drehe ich mich auf meine Seite und denke an das Damals. Schließe meine Augen und stelle Hypothesen auf. Hätte ich auch als jener andere Mensch, der ich doch fast geworden war, diese einsamen Momente zwischen Vorlesungen und biergetränkten Erstsemester-Partys erlebt? Die Stunden, in denen ich auf der Matratze meines Wohnheimzimmers lag und die Geborgenheit meines Elternhauses vermisste, der ich doch immer nur entfliehen wollte? Wäre ich genauso bald den Verheißungen der Nacht erlegen, um meinem Gefühl der Einsamkeit zu entfliehen? Hätte ich endlich den Mut besessen, eines der hübschen Mädchen an der Theke anzusprechen? Oder aber hätte dieser Anderer genauso sehr darunter gelitten, wieder und wieder alleine nach Hause zu gehen? Hätte auch er irgendwann damit begonnen, sich einzureden, dass ihm schlicht ein wenig Rock‘n‘Roll fehle? Dass er seiner Lockerheit nur ein wenig auf die Sprünge helfen müsse, dann würde das schon werden mit den Mädchen? Wäre auch er permanent nah am Wodka gebaut gewesen, hätte auch er sich dieses lächerliche Tribal stechen lassen? Hätte auch seine Nase gekitzelt, als er sich zum ersten Mal in der Toilette eingeschlossen hatte und das weiße Zeug vom Spülkasten zog?

Der Schmerz, den ich fühle, ist nun ein anderer. Vergilbte Erinnerungen legen sich über das Gemetzel hinter meiner Stirn, sepia-farbene Momentaufnahmen. Zwei Semester, verbracht in einem schweißgetränkten Vakuum zwischen Rausch und Kater. Das böse Erwachen, die Frauengeschichten meiner Kommilitonen, die trotz Rock‘n‘Roll und weißen Linien noch immer allein die meiner Kommilitonen waren. Dieser graue Tag im Januar, an dem ich in einem verdreckten Spiegel eines nochmals verdreckteren Gemeinschaftsbadezimmers den Grund all meines Unglücks zu erkennen glaubte. Der Kniff in meine Backen, zwei Digitalziffern auf einer verstaubten Waage als Gradmesser meiner Hässlichkeit. Das straffe Sportprogramm, das ich mir auflegte. Jene fatale Diät, die mir mit jeder verbrannten Körperzelle ein größeres Gefühl der Stärke gab. Hätte ich auch als ein Anderer geglaubt, die Maßeinheit für Glück sei Kilogramm? Dass er, wenn er nur zehn davon verlöre, endlich begehrt sei? Die Gänsehaut auf meinem Rücken, als ich die siebzig Kilo knackte.

Der süße Geschmack des Triumphs. Die ersten Komplimente. Absolute Kontrolle. Nichts als Leere hinter einem ausgemergelten Gesicht. Die Sache schien so klar, dann galt es eben nochmals zehn weitere Kilogramm meines Körpers zu zerstören. Dann aber, ganz sicher, würde der verbliebene Rest begehrt werden, dann flögen mir die Mädchenherzen zu. Als die schwarzen Balken der ersten Ziffer auf der Waage eine Fünf formten, fühlte ich längst nichts mehr. Und dennoch hungerte ich weiter, bis nur noch ein Vorgeschmack des Todes auf meiner Zunge lag.

Die viel zu späte Einsicht, dass ich mich zugrunde richtete. Die plötzliche Überzeugung, allein mein Umfeld trüge die Schuld an meiner Misere. Die Überzeugung, wohl einfach nicht gemacht zu sein für ein Studentenleben. War ich nicht ohnehin für Höheres bestimmt? Ja, wenn ich erst einmal meinen Abschluss in der Tasche hätte, wenn ich diese spätpubertären Spielchen nicht mehr spielte, dann, ja dann, wäre das Glück auf meiner Seite. Ich würde Geld verdienen, Karriere machen, morgens in einer, meiner, Wohnung aufwachen. Ein Loft, vom Sonnenschein geflutet wie auch mein restliches Dasein. Die Welt, sie stünde mir offen und wartete auf mich. Ich würde auf Reisen gehen, würde Frauen in kurzen Kleidern in den besten Bars der Stadt von meinen Abenteuern berichten. Hatte ich nicht bereits in meiner Vorstellung ihre Hände auf meinen Oberschenkeln spüren können? Nein, wir würden nicht getrennt nach Hause fahren.
Noch einen Martini, bitte. Sparen Sie sich die Olive.

Nächste Szene. Ein hässlicher Hut, für ein dämliches Bild in Richtung Himmel geschleudert. Eine letzte Blamage, tapfer ausgestanden, im Gesicht ein falsches Lächeln. Graduation, Gratulation, Absolution. Nun war alles ausgestanden, nun war ich neu geboren und doch schon 23. Meine Welt, sie würde eine andere sein, kaum dass der schwarze Hut den Boden berührte. Wäre auch der Andere, der ich fast geworden wäre, diesem Trugschluss aufgesessen? Hätte auch er fortan zahllose Nächte damit verbracht, Bewerbungen zu schreiben, hätte auch er Umschläge geküsst, bevor sie in gelbe Kästen warf? Hätte auch er sich im Spiegel bewundert, als er sich seinen ersten Anzug kaufte, „ja, der steht Ihnen ganz wirklich ganz ausgezeichnet!“? Hätte auch er tatsächlich geglaubt, die „Stunde Null“ stünde nun kurz bevor?

Das Geräusch einer sich öffnenden Tür schleudert mich unvermittelt zurück ins Jetzt, die Diashow in meinem Kopf weicht leisen Stimmen. „Er schläft“, murmelt eine Stimme, „sieht nicht gut aus“, eine andere. Einen Spalt breit öffne ich meine Augen, hinter den Besucherstühlen fließen weiße Hosen in weiße Wände über. Ich lasse meine Lider fallen, statt Weiß ein helles Rot, bevor ich zurück im Schwarzen bin.

Verhüllt in Dunkelheit die Frage,
was, wenn mein Dasein formatiert
was, hätten einst die Gene
einen andren Mensch kreiert?

Dächte er meine Gedanken
wär vom selben er berührt
teilte er meine Gefühle
wär‘ das Gleiche ihm passiert?

300 Millionen Leben, die ich statt meinem hätte führen können. Hätte ich auch in einem anderen geglaubt, ein Klecks von feuchter Tinte unter dem Arbeitsvertrag sei gleichbedeutend mit dem großen Glück? Wie lange hätte ich mich am Ziel gewähnt, während ich morgens noch einen Spritzer des teuren Parfums auf meinen Hals sprühte und mich auf Budapestern den Weg zur Arbeit machte? Wie lange hätte es gedauert, bis ich begreifen sollte, dass in dieser Firma niemand auf mich gewartet hatte? Dass ich nichts als ein austauschbarer Idiot unter vielen war? Hätte ich als auch ein Anderer all meine Sehnsüchte einem verfickten Job auffressen lassen?

Und hätte ich mir dennoch immer wieder eingeredet, dass sich all die Überstunden, die ich zähneknirschend schob, eines Tages auszahlten? Weil vor dem Begehren doch stets das Bewähren stünde? Säße ich auch so oft noch am Schreibtisch, während draußen die Dunkelheit längst einen schwarzen Schleier über die Häuserschluchten legte? Hätte genauso auf die Lichter der Straßen unter mir gestarrt und mich der Illusion hingegeben, dass sich schon ganz bald alles zum Guten drehen würde? Glaubte ich die süßen Früchte meiner Arbeit nicht schon vor meinen Augen, mit denen ich meinen Lebenshunger endlich stillen würde?

Stattdessen aber war da nur der wässrige Salat in der Kantine, den ich lustlos in mich hineinfraß. Da waren die Magazine, die ich in den kurzen Mittagspausen hastig durchblätterte. Die Bilder dieser Reportage aus Südamerika, die mich in ihren Bann zogen. Der Traum, sie statt auf Hochglanzbildern mit eigenen Augen zu sehen, hätte ich doch erst Zeit und Geld genug. Zeit und Geld: Scheiterte nicht ohnehin immer alles daran? War es da nicht nur logisch, mich mehr denn je in die Arbeit zu stürzen, bis mich eines Tages dann tatsächlich mein Vorgesetzter in sein Büro zitierte?

Sepia-Filter, Champagner aus der Flasche. Den Karrieresprung galt es zu begießen. Nun aber, endlich, da war ich mich dir doch so sicher, würde ich meine Träume leben. Nun gab es keine Astlöcher mehr zu zählen, nun würde ich zum Zuge kommen. Ein kräftiger Händedruck vom Immobilienmakler, ein Bund Schlüssel für die Maisonette-Wohnung in ach so begehrter Lage.

Hätte einer jener 300 Millionen sich nach der wilden Einweihungsparty endlich glücklich gefühlt? Oder hätte auch er die kurzen Nächte damit verbracht, sich schlaflos im neuen Doppelbett umher zu wälzen? Hätte auch er hinüber zur leeren Hälfte gestarrt, wäre irgendwann, in die Küche gegangen und Whiskey über Eiswürfeln fließen lassen?

Hätte der Andere begriffen, warum sich unter dem glatt gegelten Scheitel noch immer bloß eine Hoffnung auf das Werden statt einer Liebe für das Sein verbarg ? Hätte auch er auf diesen einen Menschen gewartet, mit dem er gemeinsam die Anden erkunden würde – statt drei Mal mit der Maus zu klicken und diesen Flug zu buchen? Hätte auch der Andere den Rauch von mehr als siebzigtausend Zigaretten in seine Lungenflügel strömen lassen, bis er erschrocken feststellte, wie wenig Rock’n’Roll der übervolle Aschenbecher vor ihm doch versprühte? Hätte auch er sich vorgenommen, endlich mit dem Rauchen aufzuhören, jedenfalls bald, wenn all der Stress erst einmal abflaute und einer Brise Sorglosigkeit gewichen wäre? Hätte auch der Andere sich noch einen Whiskey eingegossen, während er durch Feeds und Timelines scrollte und sich fragte, wann auch er in bunte Quadrate verpacktes Lebensglück posten würde? Ja, hätte jener Andere überhaupt gewusst, welch Mensch sich hinter seinen Profilen auf Xing und Instagram verbarg?

Hätte auch dieser andere Mensch weit nach Mitternacht italienische Lederschuhe über die Dielen geschleudert? Würde er sich, kaum dass die Wohnungstür geschlossen war, die gestreifte Krawatte vom Hals reißen und voll Abscheu in die Ecke werfen? Würde er sich genauso oft noch eine Dose Bier auf dem Kühlschrank greifen und sich schwören, dass all das hier bald ein Ende haben würde? Spürte auch er noch immer das Gefühl des 15-jährigen Rebellen in sich, wenn er sich die Kopfhörer aufsetzte und KORN hörte, so wie damals?

All the fucked up feelings again
The hurt inside is fading
This shit’s gone way too far
All this time I’ve been waiting

Warten, warten, warten. Wie oft kam es mir so vor, als hätte ich eine Nummer gezogen, die niemals aufgerufen würde? Wie oft ließ ich mich erschöpft auf dieses Sofa fallen, auf dem ich wenig später einschlief? Wie oft träumte ich dann von dieser Fahrradtour, die ich doch ganz sicher schon bald machen würde, wenn nur endlich dieses wichtige Projekt gestemmt wäre? Einmal den Main entlang, von der Quelle bis zur Mündung. Vorbei an den Ufern, an denen ich nie entspannen konnte. Nichts als der Fluss und ich… Wie oft meinte ich den Fahrtwind im unruhigen Schlaf schon im Gesicht zu spüren, während drei Stockwerke tiefer die Staubschicht auf dem teuren Rennrad beständig wuchs?
Hätte, hätte, Fahrradkette…

Ein bitteres Lächeln umspielt meine Lippen, während ich an mein Fahrrad denke.
Noch immer wage ich es nicht, meine Augen zu öffnen. Ich fühle mich traurig in der Dunkelheit und dennoch wohl, denn immerhin FÜHLE ich etwas. Wann hatte ich das zuletzt eigentlich getan – etwas zu fühlen?

Wieder einmal der Andere. Hätte auch er an meiner Stelle so lange nichts mehr empfunden? Hätten andere überhaupt etwas für IHN empfunden? Hätte es auch in seinem Leben jenes Mädchen gegeben, das ihn mit rotem Kopf um seine Handynummer bat? Hätte auch er sich wieder und wieder mit ihr getroffen, hätte kaum glauben können, dass sie es tatsächlich ganz aufrichtig und gut mit ihm meinte? Hätte er ihre Liebe erwidern können? Oder hätte auch er sie hingehalten und vertröstet, Ein ums andere Mal? Weil da draußen in der weiten Welt, doch ganz sicher irgendwann und irgendwo doch sicher dieser eine Mensch sein musste, der noch viel besser zu ihm passte und ihm noch so viel mehr zu geben hatte?

Hätte auch er sie schlussendlich abserviert und jeden aufblitzenden Moment der Reue im Rausch der Arbeit erstickt? Hätte auch er zentimeterdicke Stapel von Papieren mit seiner teuren Kamera beschwert, mit der er doch eigentlich seine Reisen festhalten wollte?

Ich schlucke. Eine Schlinge aus Stacheldraht in meinem Kehlkopf beendet meine Gedankenspiele. Nein, es gab da keinen Anderen. Die fast dreihundert Millionen Alternativen meiner selbst waren schon wenige Minuten nach einem Samenerguss gestorben, waren Möglichkeiten geblieben. ICH war es, der das Licht der Welt erblickte. Ich allein hatte alles so geschehen lassen. Ich bin es, der doch so gern in einer Partei beigetreten wäre, wenn ich mich nur endlich entschieden hätte. Ich allein bin derjenige, der so gerne einfach mal ein Buch gelesen hätte, wenn ich nur dasjenige gefunden hätte, dessen Lektüre keine Zeitverschwendung darstellte. Ich allein bin es, der seinen Eltern gern gesagt hätte, wie sehr er sie liebe, wenn er sie doch nur einmal wieder besucht hätte. „Es ist wie es ist“, sagt der Resignierte. „Was wird sein?“, fragt der Neugierige. Ich dagegen spiele „Was wäre wenn?“, während ich darauf warte, dass der Schmerz aus meinen Gliedern strömt.

Ich fühle mich sicher in meiner Paraderolle. War ich nicht schon immer ein Meister des Wartens? Warten auf mehr Zeit, warten auf mehr Geld, warten auf das richtige Umfeld, warten auf den perfekten Moment, warten auf den wunderbarsten aller Menschen. Ich wünschte, ich hätte mir einfach einmal die Zeit genommen, statt sie mit dem Warten zu verbringen. Ich wünschte, ich hätte einfach mal gemacht statt lediglich zu überlegen. Ich wünschte, es wäre nicht immer gerade irgendwie schlecht gewesen. „Hier ruht der, der intensiv gelebt hätte – hätte er nur erst einmal…“: Ich wünschte, andere Worte würden meinen Grabstein zieren. Ich wünschte, ich hätte die Liebe dieses Mädchens einfach erwidern können.

Vielleicht, da wachte ich dann längst neben ihr statt neben leeren Weinflaschen auf. Vielleicht lebte ich nicht mehr in dieser teuren Maisonette-Wohnung, in der ich doch eigentlich nicht einmal lebte, in der ich doch eigentlich nur erschöpft war. Vielleicht lägen im Flur auch keine italienischen Lederschuhe mehr verstreut. Vielleicht, da tobten im Flur unsere Kinder. Vielleicht wäre mein Kontostand geringer, vielleicht die Wohnung kleiner. Dafür aber wäre ich vielleicht auf einem Gebrauchtfahrrad den Main hinab gefahren, hätte vielleicht ein Zelt in den Anden aufgeschlagen.

Vielleicht hätte ich längst dem Rauchen aufgehört, vielleicht würde mich gar zumindest gelegentlich vor Mitternacht der Schlaf ereilen. Vielleicht wäre ich dann auch nicht wieder einmal zu spät dran gewesen, heute Morgen auf dem Weg zur Straßenbahn. Vielleicht hätte ich noch einmal nach links geblickt, bevor mich der Kühlergrill ergriff und mein Schädel auf dem Asphalt prallte. Vielleicht, da wäre statt Blut ein zielstrebiger Mann die Straße hinabgelaufen.

Laufen wie die Tränen über meine Wangen. Ich reiße meine Augen auf giere nach Luft. Fantasiere ich? Auf einem der Besucherstühle sitzt ein alter Mann, sein Bart reicht ihm bis zur Brust. Sein Gesicht ist eingefallen, er scheint in seinem Leben viel Zeit mit dem Warten verbracht zu haben. Auf eigenartige Weise kommt mein Besucher mir bekannt vor, doch komme ich nicht darauf, woher meine Vertrautheit rührt. Ich starre in ein müdes Augenpaar;  kraftlos erwidert er meinen Blick. Unentschlossen hebt er seine Schultern. „Guten Tag“, flüstert der Greis. „Ich bin der Konjunktiv. Ich habe dich dein ganzes Leben lang begleitet.“ Sekunden vergehen, bis ich verstehe. Er ergreift meine Hand, bevor er seine Stimme hebt: „Was, wäre dies das Ende?“

Dann wird alles dunkel.

„Feiern gehen“: Vom Damals und vom Heute

Blinkende Lichter, die Verriegelung des smarten Zweisitzers öffnet sich. Klack.
Raus aus der Parklücke, der routinierte Kontrollgriff an die Taschen meiner Jeans sitzt wie eh und je. Portemonnaie, Haustürschlüssel, Feuerzeug, Handy: Check!
Auch den Schulterblick vergesse ich nicht.

Ein Blick auf die Armbanduhr: 00.37 Uhr. „Scheiße, schon so spät!“, denke ich, während ich auf die Friedberger Landstraße einbiege. Fast umgehend lache ich in den Rückspiegel, lache über mich selbst und diesen einen Gedanken, dem noch während meiner Fahrt noch viele folgen sollten. Früher, vor zehn Jahren, da war kurz nach halb eins doch: Nichts. Erst recht nicht am Wochenende. Und, hey – heute ist Wochenende! Und ich bin bereit. Bereit zum Feiern. Bereut zum Eskalieren, zum auf die Kacke hauen, zum so-tun-als-ob’-kein-Morgen geben, bis die Wolken wieder lila sind… Ach, ihr wisst schon.

Vorglühen “to go”

Klar, hinsichtlich der Wochenenden verfüge ich über ein gewisses Defizit: Seit ich im Berufsleben stehe, zitiert mich mein Dienstplan samstags wie sonntags nur einmal im Monat nicht zur Arbeit. Augen auf bei der Berufswahl. Dass somit andere Menschen über gleich vier Mal so große Wochenend-Erfahrung verfügen, wird mir bewusst, noch während ich den Blinker rechts setze. Ein kurzer Zwischenstopp an der Trinkhalle, ich erstehe Club Mate, vierzig Zentiliter Wodka eine Schachtel Zigaretten und ‘ne Packung Kaugummi für den schlechten Atem.

Kaum drehe ich den Zündschlüssel herum, muss ich abermals laut lachen. Was war das denn bitte? „Vorglühen to go“? Das, da bin ich mir ganz sicher, hat es früher nicht gegeben. Aber früher, da war ich ja auch am Wochenende nicht alleine in einem Car-Sharing-Auto auf dem Weg zur nächstbesten Technoparty. Auch hätte ich meine Einkäufe niemals in einem TURNBEUTEL auf verstaut. Ich lasse mir diese Tatsache auf meiner Zunge zergehen:  In-einem- Turnbeutel. Was mir heute als praktische und durchaus respektable Form der Aufbewahrungsmöglichkeit erscheint, war doch damals schlicht jenes Ding, welches die Loser meiner Schule stets ausgerechnet zum Sportunterricht mitzubringen vergaßen . Und hatte ich tatsächlich für den Fall, dass es an der Schlange länger dauern würde, obendrein meine TAGESZEITUNG eingepackt? Eine abgefuckte TAGESZEITUNG in einem TURNBEUTEL: Hätte man mir mit achtzehn verraten, dass ich einmal so enden würde – ich hätte mich selbst dafür geohrfeigt.

Blinker links, ich überhole ein Taxi und sinniere weiter über die Vergangenheit. Wie war das doch gleich damals, mit all der Feierei am heiligen Wochenende? Früher, mit Anfang zwanzig, da saß ich zu dieser Uhrzeit ganz sicher nicht allein im Auto. Stattdessen hatte ich mit mindestens vier halbstarken Freunden breitbeinig Platz in der Straßenbahn bezogen. Außer unserem Testosteronüberschuss teilten wir uns Zigaretten und Beck’s-Flaschen, weil irgendjemand immer knapp bei Kasse war. Auch unsere Mördermische, bestehend aus einem Liter Magic Man und `ner halben Pulle Rachmaninov für vierneunundneuzig, teilten wir großzügig mit den Mädels des Junggesellinenabschieds aus dem Main-Kinzig-Kreis, von denen wir zuvor Kondome und pappsüße Liköre aus dem Bauchladen der Braut erstanden hatten. Um möglichst maskulin zu wirken, legten wir dabei demonstrativ unsere Nike AirMax auf dem benachbarten Sitz ab. Nun drücke ich durch die Sohlen meiner New Balance aufs Gaspedal. Wann genau hatte ich eigentlich mein Schuhmodell gewechselt?

 

Mich selbst auszuführen? Heute kein Problem.

Heute sitzen mir weder junge Damen aus Schlüchtern oder Niederrodenbach noch halbstarke Kumpels gegenüber. Ich bin alleine unterwegs, weil ich Bock auf Tanzen habe. Nein, auch das hätte ich früher nicht einmal unter Androhung von Waffengewalt getan. Doch heute, da kann ich mir auch sicher sein, dass ich schon irgendjemand treffen würde. Denn heute, da bin ich angekommen in dieser Stadt, die mir damals noch so fremd erschien. Und wenn nicht, dann nehm‘ ich’s gelassen. Heute bin ich mir selbst Gesellschaft genug. Und ich bin selbstbewusst genug, auch Fremde anzusprechen. Kein Grund zur Sorge.

Zehn vor eins. Noch bin ich stocknüchtern, weil, ich muss ja fahren. Damals musste ich zu dieser Uhrzeit längst an der zwei-Promille-Grenze gekratzt haben, während ich nach den Namen der Junggesellinen fragte – um sie prompt wieder zu vergessen. Stattdessen: Noch ein Schluck aus der um Billigfusel angereicherten Energydrink-Familen-Vorrats-Flasche. Zuckerschock und die Synapsen durchgespült. Denn freilich hatte ich meine Freunde nicht erst an der Straßenbahnhaltestelle getroffen: Quasi nahtlos nach der Arbeit waren wir am Freitagabend dazu übergegangen, in unaufgeräumten Einzimmerwohnungen Bier zu trinken und uns am Siebzehnzollbildschirm irgendwelchen heißen Scheiß auf meinVZ reinzuziehen.

Und heute? Da hab‘ ich mich nach der Arbeit „erstmal hingelegt“, der Arbeitstag war schließlich anstrengend gewesen. Ich schüttele meinen Kopf. War ich etwa alt geworden? Immerhin: Im Bad brauchte ich heute nur noch einen Bruchteil der Zeit, die ich früher für das akribische Überprüfen einzelner Haarsträhnen und Hautunreinheiten verschwendet hatte. Mittlerweile komm‘ ich klar auf mein Spiegelbild, komm‘ darauf klar, wenn unter meinen Augen einmal wieder dunkle Schatten liegen. Komm‘ klar auf meinen schiefen Eckzahn, selbst ein Bad Hair Day bringt mich schon längst nicht mehr aus dem Konzept. Ich kenne mich sommerbraun und winterblass, kenne den neugierigen und erwartungsfrohen Blick meiner Augen an den einen-, und die Spuren der letzten Nacht in meinem Gesicht an den anderen Tagen. Doch: Ich bin in Ordnung so, das weiß ich heute.

Eskalation versus Vergessen

Nach einer kalten Dusche hatte ich mir noch einen Espresso reingezogen, um meine Müdigkeit zu überwinden. Hatte ich mit zwanzig eigentlich jemals einen Espresso getrunken? Ich kann mich nicht daran erinnern. Müde gewesen war ich jedenfalls nie, und wenn eines immer ging, dann war das: Feiern.

Ein besonderer Grund war hierzu indes nie vonnöten. Wir gingen einfach feiern, weil wir waren, was wir sind: Anfang zwanzig, latenter Energieüberschuss – und voller Lust auf Eskalation. Und heute? Heute gehen wir feiern, weil wir nur einen Abend lang nicht sein wollen, was wir sind. Für einen verschwindend kleinen Moment, und sei er noch so kurz, wollen wir nicht länger Frau Meier aus der Buchhaltung sein, nicht Polizeioberkommissar Weber, nicht der Herr Roth vom Controlling. Nicht der junge Vater unserer Familie, nicht der Freiberufler, der sich monatlich um seine Wohnunh sorgt. Wir wollen vergessen. Teil werden einer vom Leben gezeichneten Masse, die es nicht gebacken bekommt, sich einen Alltag zu erschaffen, dem sie nicht ständig entfliehen will.

Manchmal schmieren wir uns dafür sogar Schminke in unsere Midlife-Fressen, als sei unser Leben noch immer nur der Kinderfasching, an dem wir damals Cowboy, Indianer und Prinzessin spielten. Wir entfliehen entfliehen in teure Reisen, in ein erträumtes Ich auf einem verfickten Instagram-Kanal, oder eben – in den Rausch einer Technoparty. Ich selbst will mich davon nicht einmal ausnehmen.

Ein Griff zum Blinker, klack, klack – ja, im Ostend findet man noch freie Parkplätze. Ich greife mir meinen Turnbeutel, werfe die Fahrertür ein wenig zu heftig zu. Ich bin am Ziel. Schon von draußen höre ich die Bässe wummern, Verheißungen des zuckersüßen Kopffreikriegens. Routiniert trinke ich einen Schluck Club Mate ab, fülle mit Wodka auf. Mit geschlossenem Deckel die Flasche mehrfach hin- und her gewendet, auch darin bin ich mittlerweile geübt. Ich reihe mich ein in die Schlange, die gar nicht mal so lang ist. Ja, ich bin mir sicher, dass damals auch die Schlangen länger waren. Zum Lesen meiner Zeitung komm‘ ich nicht einmal, stattdessen quatsche ich ein wenig mit meinen Schlangennachbarn und glühe vor to go.

Schnell geht es voran, schneller, als mir lieb ist – nach nur wenigen Schlucken aus meiner Flasche erreiche ich die nette Dame vom Einlass. Während das Pärchen vor mir noch seine Ausweise zücken muss, werde ich mit einem „Ausweis brauchste nicht zu zeigen. Siehst mir schon `ne Weile volljährig aus!“ begrüßt. Ich fühle mich nur zweifelhaft komplimentiert, mach‘ trotzdem den Wowereit und antworte mit einem „Und das ist auch gut so!“. Meinen Turnbeutel öffne ich derweil ohne Aufforderung; das Licht einer Taschenlampe streift meine ungelesene Zeitung. Damals hätt‘ ich wohl erstmal lamentiert, warum ich mich hier durchleuchten lassen müsste. Doch heute, da will ich auch der jungen Frau mit den schwarzen Handschuhen ihr Schaffen möglichst leicht gestalten. Heute, da weiß ich schließlich auch die Arbeitsleistung der Klofrau mittels kleiner Geldspende zu würdigen und habe mich um meine Altersvorsorge gekümmert.

Aufstehen, wenn es dunkel wird: Fand’ ich das nicht mal geil?

„Viel Spaß dir!“, nur kurz sorgt die Zeitung in meinem Turnbeutel für Irritation. „Aber klebe bitte noch deine Handykamera ab!“. Alter, denk‘ ich mir, geht das selbst hier schon los wie im Berghain? Souverän schüttele ich meinen Kopf, mogele mich irgendwie am kreisrunden Aufkleber vorbei, der mir zwecks Verdeckung der Linse meines iPhone gereicht wird. Auch das, denke ich mir, wäre damals sicher nicht passiert.

Was hätte man auf einem Nokia 3510 auch abkleben sollen? Die gottverdammte Schlange bei fucking „Snake 2“ ?!

Ein letzter Blick auf meine Armbanduhr. Zwei Minuten nach eins. Der nächste Tag wird dann wohl verpennt. Ich ertappe mich dabei, wie ich noch eruiere, dass ich morgen dann wohl weder Wandern im Taunus gehen noch eine Radtour unternehmen werde. Nein, auch dieser Gedanke wäre mir damals ganz sicher nie gekommen.

Ach; und bevor ich es vergesse: Das mit der Altersvorsorge war natürlich nur ein Scherz.

Hörspiel-Liebe: Weshalb man für drei Nachwuchs-Detektive Frankfurt kurzzeitig verlassen sollte

Es gibt – nach meiner Auffassung – exakt drei legitime Gründe, unser wunderbares Frankfurt für eine Zeit lang zu verlassen. Zum Ersten wäre da das Geldverdienen, schließlich ist der Zaster dieser Welt nicht allein auf den Straßen Frankfurts verteilt. Selbst ein Leben im Einzimmerloch ist hier schließlich nicht ganz günstig und will irgendwie finanziert werden. Notfalls eben auch mit auswärtigen Geschäftsterminen.

Zum Zweiten wäre da, na klar, das Reisen: Es ist okay, sich hin und wieder ein wenig in der Welt umzuschauen. Wie soll man auch die eigene Heimat schätzen, wenn man nicht hin und wieder mal auf Reisen geht? Nachdem man erstmal einige Tage oder Wochen lang in fremden Städten abgetaucht ist, in den Meeren dieser Welt geschwommen ist oder ferne Gipfel erklommen hat, ist das Gefühl umso schöner, wieder zu Hause zu sein. Und immer wieder stellt man fest: Hey, so schlimm haben wir es in Frankfurt wahrlich nicht erwischt. Wie schön, hier leben zu dürfen.

Der dritte Grund, welcher es rechtfertigt, die Stadt unserer Herzen zu verlassen, sind: Die Drei Fragezeichen. Richtig gelesen, jawoll: Die Drei Fragezeichen. Die Drei Fragezeichen?! Doch Eines nach dem Anderen…

Der Himmel ist grau, trotzdem ist es drückend heiß. Ein Tag im Juli, ich habe es mir bequem gemacht und starre durch das Fenster hinaus auf das Gewusel der Pendler auf den Bahnsteigen.

Mit der unverkennbaren Melodie der Stromrichter setzt sich mein ICE in Bewegung. “So fühlt sich das also hinten an”, grinse ich in mich hinein und rutsche noch ein Stückchen tiefer in den blauen Sitz. Mein Ziel ist Dortmund, und noch ehe der ICE 626 den Flughafen erreicht und auf der Schnellfahrstrecke seine Höchstgeschwindigkeit von 300 Stundenkilometern erreicht haben wird (nur Fliegen ist schöner!), bin ich in meiner heilen Welt versunken. Die Welt der drei Detektive aus Rocky Beach.

Die Drei Fragezeichen und ich

Jeder braucht sein ganz eigenes Stückchen heiler Welt, und jeder findet einen solchen Rückzugsort woanders. Einen Ort, an den man flüchten kann, wenn die Welt da draußen wieder einmal kaum mehr zu ertragen ist. Und sei es nur ein fiktiver. Als Kind hatte ich mich zunächst in die Welt von TKKG geflüchtet. Die Abenteuer von Tim, Klößchen, Karl und Gabi, erzählt zwischen königsblauen Buchdeckeln. Unzählige dieser Bücher stapeln dürften sich auch heute noch in meinem Elternhaus stapeln, vom Königsblau dürfte vor Staub kaum mehr etwas zu erkennen sein.

Auch die Hörspiele der vier Abenteurer hatte ich für mich entdeckt, hatte viele fröhliche wie traurige Stunden mit einem unansehnlichen Bügel-Kopfhörer auf dem Köpfchen verbracht. Habe auf die Holzdecke über meinem Bett gestarrt so wie heute aus dem Zugfenster, habe immer wieder neue Bilder auf ihr gemalt. In Gedanken, versteht sich, und zwischendurch: Die Kassette gedreht. Warum nur war eine Seite immer genau dann zu Ende, wenn es doch am spannendsten war? Die nun folgenden Handgriffe beherrschte ich im Schlaf. “Open”; die Kassette herausgezogen, mit flinken Fingern gewendet und wieder in den Rekorder gesteckt. Klappe zu, auf “Play” gedrückt: Weiterträumen.

In meinem Heimatdorf gab es ein kleines Lädchen, “Pia’s Lädchen” um genau zu sein. Das Geschäft ist längst Geschichte, doch immer noch erinnere ich mich an die hohen Regalreihen, prall gefüllt mit Hörspielkassetten. Ein Paradies, wenn auch die Qual der Wahl mich schon damals gelegentlich überfordert hatte. Doch reichten die zehn Mark Taschengeld eben nur für eine neue Kassette oder ein neues Buch, da wollte die Kaufentscheidung wohlweislich bedacht sein. Für solche Fälle verfüge ich heutzutage zu meiner Freude und meinem Leidwesen gleichermaßen eine Kreditkarte.

Während ich meine Kinder- und Jugendzeit also komplett auf die “Profis in spe” verschwendete, ließ ich ausgerechnet die Drei Fragezeichen sträflichst außer Acht. Ein Umstand, der sich erst Jahre später ändern sollte. Viele Jahre.

Auf dem Platz mir gegenüber döst ein kleiner Junge, seine Mama daddelt auf ihrem Handy. Wie alt der Kleine wohl sein mag? Vier Jahre, fünf, vielleicht schon sechs? Jedenfalls, wieder muss ich schmunzeln, eigentlich müsste statt mir doch er sich die Bahnfahrt mit einem Hörspiel vertreiben. So eindeutig aber, so viel weiß ich mittlerweile, ist das mit der Zielgruppe bei Hörspielen längst nicht mehr. Ich jedenfalls hatte mir als guten Vorsatz für das laufende Jahr das Ziel gesteckt, meine an TKKG verlorene Jugend nachzuholen. Dass ich mittlerweile schon irgendwas-um-die-Dreißig war, sollte mich in meinem Vorhaben nicht weiter stören. Bis zum Jahresende, so schwor ich mir zum Jahreswechsel, würde ich sämtliche der zum damaligen Zeitpunkt 191 (!) existierenden Folgen der drei Fragezeichen gehört haben. Noch am Neujahrsabend fing ich damit an. Ich war den Dreien, das muss ich so klar sagen, schon bald verfallen. Vergessen waren Tim, Karl, Klößchen und Gabi. Justus, Bob und Peter waren nun der heiße Scheiß für mich, und bereits im Juni hatte ich innerhalb von nur einem halben Jahr jede Sekunde der über 30-Jährigen Geschichte der drei Nachwuchs-Detektive gehört. Hatte ein Jedes ihrer Abenteuer miterlebt, hatte mit ihnen gehofft, gebangt, gezittert, hatte mich über Justus’ permanentes Kluggescheiße aufgeregt und ihn dennoch gerade wegen dieser so sehr ins Herz geschlossen. Hatte Skinny Norris zu hassen begonnen und begehrte ein Stück von Tante Mathildas Kirschkuchen.

Draußen zieht der Westerwald vorbei, der kleine Junge döst noch immer. Und ich? Denke zurück an jenes tiefe Loch, in welches ich zu fallen schien, nachdem ich die Abenteuer der Drei Detektive, nun ja, gewissermaßen “ausgehört” hatte. Ich hatte doch tatsächlich gar nicht bemerkt, wie sie mir längst ein liebes Stückchen Alltag geworden waren. Was also tun? Eine Bewerbung als Synchronsprecher bei SONY BMG als Produzentin der Hörspielserie verlief leider erfolglos. Ich habe keine Sprecherausbildung, hieß es im Antwortschreiben des Konzerns, da könne man nix machen. Als kleines Trostpflaster legte man der Absage eine Autogrammkarte der Synchronsprecher bei, na immerhin. Ich jedoch konnte etwas machen: Mir die Wartezeit auf neue Folgen mit den gleichnamigen Adventure-Spielen vertreiben, beispielsweise. Oder aber auch: Mit dem ICE nach Dortmund fahren. Denn dort findet heute – drei Tage vor der Veröffentlichung der nunmehr 194. Folge “Die drei ??? und die Zeitreisende” die zugehörige Record Release Party statt.

Sprich: Ein Haufen Hörspielverrückter kommen zusammen, um gemeinsam schon vorab der neuen Folge ihrer Helden zu lauschen. Ein solches Treffen findet pünktlich kurz vor der Veröffentlichung einer jeden neuen Folge statt und wird von der “Lauscherlounge” organisiert. Diese ist ein Projekt von Sprecher Oliver Rohrbeck, der dem ersten Detektiv schon als Kind seine Stimme geliehen hat. Während Justus Jonas nie gealtert ist und über die Jahrzehnte Kind geblieben ist, sind die Jahrzehnte an Rohrbeck nicht spurlos vorbeigezogen: 53 Jahre ist der Berliner heute alt. Mit seiner Stimme sind Generationen großgeworden, kaum eine dürfte im deutschen Sprachraum über einen ähnlichen Bekanntheitsgrad verfügen.

Wir erreichen Köln. In meinen Gehörgängen sucht Justus Jonas seine eigentlich tödlich verunglückten Eltern, die Mutter des Kleinen tippt immer noch auf ihrem Handy herum. Dabei wirkt sie ein wenig hilflos. Ich merke, wie ich aufgeregt werde. Nicht nur, dass ich Rohrbeck persönlich treffen und sprechen hören werde. Vielmehr frage ich mich: Wie mag wohl der durchschnittliche Besucher eines “Public Listenings” eines Kinderhörspiels sein? Ich ahne, dass die eigentliche Zielgruppe – die Kinder – eine Minderheit bilden werden. Noch während die Türen sich schließen und der ICE weiter in Richtung Ruhrpott rollt, verwette ich meinen straffen Hintern darauf, dass ich mit Abstand nicht der Jüngste sein werde in der Halle unweit des Dortmunder Hauptbahnhofs. Ein Großteil der Besucher, da bin ich mir sicher, werden sein wie ich: Längst erwachsen, längst angekommen im Leben. Mittendrin in dessen Freuden, Widrigkeiten, Höhen, Tiefen, Pflichten,Leiden. Kassetten-Kinder wie ich, welche die Helden ihrer Kindheit im Kassettenkoffer mit hinein in ihr Erwachsenendasein getragen haben. Sich das kleine Mädchen und den kleinen Jungen zumindest innerlich bewahrt haben, auch wenn sie ihre heile Welt mittlerweile eher auf Spotify denn auf Musikkassetten finden dürften. Zu meiner Linken zieht der Kölner Dom vorbei. Ich bekomme Hunger auf Bandsalat. Nicht mal mehr eine Stunde bis in die Borussenstadt.

 

Wenn T-Shirts noch ganz harmlos sind

Mit obligatorischen zehn Minuten Verspätung stoppt der Zug und spuckt mich hinaus in die Nachmittagshitze der Ruhrpott-Metropole. Hey, Dortmund – schön, dich mal wieder zu sehen! Alles gut bei dir? Mit Dortmund verbindet mich viel, in jedem Winkel kleben Erinnerungen fest. Ich hatte eine gute Zeit hier, mag die Stadt bis heute sehr. Liebe den grauschwarzen Putz auf den Fassaden ihrer Arbeitersiedlungen, liebe die Relikte einer von Ruß bedeckten Ära. Liebe den weitläufigen Westfalenpark, liebe das bunte Blütenmeer des Rombergparks. Liebe die schmutzigen Straßen, die unverblümte Herzlichkeit der Menschen. Dortmund, du bist nicht Frankfurt. Und das ist gut so.

Doch bin ich heute nicht hier, um im Park zu spazieren oder mich in einer der vielen Eckkneipen niederzulassen. Ich bin hier wegen der drei Jungs aus Rocky Beach – und ich bin nicht alleine: Schon auf dem Bahnhofsvorplatz begegne ich ersten T-Shirts mit dem Logo der drei Fragezeichen. Ich frage mich, ob ich überhaupt adäquat genug gekleidet bin. Noch kann ich nicht ahnen, dass Fan-Shirts noch eine recht dezente Sympathiebekundung für die Hörspiele darstellen sollten.

Bis zur Kulturhalle FZW ist es nicht weit. Eine halbe Stunde vor Beginn tummelt sich bereits eine Horde Fans vor dem Einlass, kaum jemand scheint jünger als ich. Ein kurzes Raunen geht durch die Menge, als eine junge Frau mit grünen Haaren vorfährt. Ihr Auto ist geschmückt von Motiven aus der Welt der “Fragezeichen”. Ich bin baff. Schnell bin ich mit ihr im Gespräch, gern darf ich ein Foto von ihrem Fanmobil machen. Wenn du das hier lesen solltest, Katrin: Viele liebe Grüße aus Frankfurt! Die Fußmatten im Innenraum sind mit drei Fragezeichen bestickt. “Hab’ ich selbst gemacht!”, sagt sie. Dass auch die Gurtpolster mit drei Fragezeichen versehen sind und in den Seitenfenstern die Visitenkarte der “Drei” steckt, wundert mich da kaum mehr. Sie fährt nicht nur ein abgefahrenes Auto, auch ihr Turnbeutel ist bemerkenswert. “Ich wandere aus nach Rocky Beach!”, ich muss herzlich lachen. Verrückte Welt!

Wir plauschen noch ein bisschen im Schatten des berühmten “U”, dann geht’s hinein.Direkt im Eingangsbereich befindet sich das, was man bei Konzerten wohl als Merchandising-Stand bezeichnen würde. Erste Anlaufstelle für eingefleischte Fans, hier gibt’s neben T-Shirts tatsächlich auch noch Kassetten und Vinyl. “Ich hab’ die erste Auflage der Pressung von ‘Im Zeichen der Ritter’, trotz Kratzer noch 200 Euro wert!”, ich vernehme Fachgesimpel. Quatsche mich auch hier ein wenig durch, bevor ich nochmal Pipi mache und mir einen Platz in der Halle suche.

Zunächst staune ich nicht schlecht:
Viel mehr Menschen als ich dachte haben ihren Weg in den unscheinbaren Bau in der Nähe des Hauptbahnhofs gefunden. Ein erster, flüchtiger Check ergibt: Die meisten dürften in meinem Alter sein, Kinder dagegen sehe ich nur wenige. Ich habe mal wieder mehr Glück als Verstand und finde inmitten der bereits vollbesetzten Stuhlreihen noch einen freien Platz in der dritten Reihe. Auch hier bin ich schnell im Gespräch. Mein Nebenan hat die Schallplattensammlung seiner Tante geerbt. Darunter, wie kann es auch anders sein: Jede Menge ??? auf Vinyl. Er staunt nicht schlecht, als ich erzähle, dass ich eigens aus Frankfurt angereist bin. “Da war ich nur ein einziges Mal”, sagt er. “Viele Hochhäuser – und es soll verdammt teuer sein dort!” Ich nicke stumm und denke mir meinen Teil.

 

Ein Sinn zuviel

Das Licht geht aus, unter lautstarkem Geklatsche betritt der Star des Abends die Bühne: Oliver Rohrbeck, seit 1979 Stimme des “ersten Detektivs” Justus Jonas. Er ist kleiner, als ich erwartet hätte. Bereits sein “Guten Abend, Dortmund!” lässt mich zusammenzucken – unweigerlich ordnet mein Oberstübchen seine Stimme dem adipösen Detektiv zu. Dass statt Justus Jonas aber gerade ein 53-jähriger Glatzenträger spricht, ist eigenartig. Rohrbeck begrüßt die amtlich mehr als 600 angereisten Fans. Ich frage mich, wie viele der Silhouetten im Saal eine noch weitere Anreise auf sich genommen haben mögen. Rohrbeck gibt ein paar Anekdoten aus dem Aufnahmestudio im Hamburger Anwesen von Produzentin und Hörspiel-Königin Heikedine Körting zu Besten. In diesem entstehen, nebenbei bemerkt, auch die TKKG-Hörspiele.

Bevor wir ein exklusives Pre-Listening der neuesten Folge erfahren dürfen, gibt sich auch Rohrbeck schon ganz gespannt: “Ich erinnere mich an nichts mehr!”, behauptet er und erntet damit einige Lacher. Zwischen den Aufnahmen und dem heutigen Tag läge immerhin ein halbes Jahr. Nun könne es aber losgehen. Und das tut es auch. Applaus brandet auf und begleitet das berühmte Intro. Es ist ein merkwürdiges Gefühl: 600 Menschen sitzen in einer Halle und starren auf eine leere Bühne. Leer bis auf Rohrbeck, der es sich einem schwarzen Ledersessel bequem gemacht hat. 600 Menschen sitzen also da und tun nichts, als hörenderweise einer Geschichte zu folgen. Mein Nebenmann bringt die skurrile Situation auf den Punkt: „Ich glaube, ich habe gerade einen Sinn zu viel!“, flüstert er mir zu. Ich kann ihm nur recht geben.

Ich beschließe, meinen Sehsinn kurzzeitig zu eliminieren und schließe meine Augen. Unweigerlich malt mein Kopf bunte Bilder zum Gehörten. Vielleicht liebe ich Hörspiele wie Bücher deswegen: Sie erlauben meiner Phantasie, frei zu sein. Von Filmen dagegen fühlt sie sich beleidigt.

Nur hin und wieder öffne ich für einen kurzen Moment die Augen, betrachte den Mann auf dem Ledersessel, dessen Stimme bekannter ist als sein Gesicht. Die Vorstellung, dass Justus Jonas‘ Worte, denen ich folge, eigentlich seine sind, wirkt unglaublich.

Über den Inhalt des Gehörten mag ich mich an dieser Stelle freilich nicht äußern. Niemandem soll die Spannung und Freude auf die neue Folge genommen werden!

Nach 75 Minuten und einem verblüffenden Ende schüttele ich mich. Erstaunlich, wie sehr ich einmal wieder die Welt um mich herum vergessen konnte. Abermals Applaus, auch Rohrbeck scheint zufrieden mit dem jüngsten Streich der Detektive. „Es gibt ja solche und solche Folgen“, resümiert er. „Diese hier war eine solche.“

Zeit für eine Pause. Frische Luft, zwei hastig gerauchte Zigaretten. Das nächste Highlight steht bevor.

Schon Tradition bei den „Record Release Parties“ sind die Mitmach-Hörspiele. Auch dieses Mal werden einige Zuschauer von Rohrbeck ausgewählt, um auf der Bühne eine Sprecherrolle zu übernehmen. Der Name der heutigen Folge: „Die drei Fragezeichen und das Spiel ohne Regeln“. Die Kurzgeschichten werden aufgezeichnet und anschließend als Podcast zur Verfügung. Rohrbeck instruiert zunächst die Freiwilligen. “Die wissen meistens gar nicht, wie nahe man an so ein Mikrofon heran muss!”. Ich grinse, musste ich einst auch lernen. Die Technik will nicht so wie Rohrbeck will, man fängt noch mal von Neuem an. Der Freude, zuzuschauen, tut das keinen Abbruch.

Die sechs Auserwählten geben sich redlich Mühe. Ich finde gar, dass sich der heutige Sprecher des Chauffeurs Morton viel mehr nach Morton anhört als der echte Morton. “Sehr wohl, die Herren!”

Ich bin verwirrt. Am liebsten beobachte ich aber Rohrbeck in seiner Rolle als Justus Jonas. In ihr, das merkt man, fühlt er sich sicher. Er unterstreicht Justus‘ Sätze gern mit Blicken und Gesten. Statt sie zu spielen, lebt er seine Rolle. Quasi ganz nebenbei bedient er ein überdimensionales Soundboard, um die Hörspiel-Szenerie mit Geräuschen zu unterstreichen und die Stimmen mit Effekten zu belegen. Klar, dass ein Telefonanrufer auch so klingen muss, als spreche er durch eine Hörermuschel!

Fast ein wenig traurig – doch ich komme wieder!

Zum Abschluss gibt’s noch eine Tombola. Ich gewinne nichts, doch bin nicht enttäuscht – denn gewonnen hab’ ich ohnehin, nämlich die Erfahrung, dass ich mit meiner kleinen “Macke” nicht allein bin. Zum ersten Mal saß ich gemeinsam mit hunderten Vollblut-Erwachsenen in einer Halle, die sich ihre heile Hörspielwelten niemals haben nehmen lassen. Solange die Phantasie noch lebt, ist kein Kampf verloren!

Und so bin ich fast ein wenig traurig, als das Licht angeht und sich die Reihen lichten. Auch für mich heißt es nun, Abschied zu nehmen – vorerst zumindest. Am Bahnhof kaufe ich mir noch ein Exportbier für die Heimreise im Nachtzug. Normalerweise trinke ich kein Bier, doch in Dortmund, da gehört das so. Und Apfelwein gibt’s dort eh nicht.

Als ich im Sitzpolster versunken bin und die Laternen der schwarzen Provinzbahnsteige vorbeihuschen sehe, freu’ ich mich schon jetzt auf die nächste “Record Release Party”. In zwei Monaten wird Folge 195 erscheinen, und ich werde dafür nach Berlin reisen. “In Kürze erreichen wir Bochum”, ich öffne meine Flasche Exportbier. Ich nehme einen Schluck, krame meine Kopfhörer aus dem Rucksack. Noch knapp vier Stunden bis Frankfurt. Das langt für drei Folgen. Auf der anderen Seite des Intercity-Wagens sitzt ein junges Mädchen und starrt auf ein vor ihr aufgeklapptes Tablet. Offensichtlich schaut sie eine Serie. “Soll die Jugend von heute mal machen”, denk’ ich mir. Ich gebe weiterhin nichts auf Bewegtbilder und setze weiterhin auf meine Hörspiele.

Als die Titelmelodie der “Fragezeichen” ertönt, breitet sich ein Grinsen in meinem Gesicht aus. Wenig später bin ich weg. Im Halbschlaf höre ich Justus klugscheißen. Hin und wieder erscheint Oliver Rohrbeck in meinem Kopf.

Gefangen im Sommerloch.

Irgendetwas ist anders in meiner Stadt.


Ausgerechnet auf dem Tiefbahnsteig der Kontablerwache wird mein zunächst diffuses Gefühl zur unumstößlichen Gewissheit. Niemand hier schimpft lauthals über die S-Bahn, die – immer dasselbe mit der scheiß Bahn! – mal wieder zu spät ist, was mitunter daran liegen mag, dass die S-Bahn gar nicht fährt. Es ist Juli 2018, und noch fünf Wochen lang ist der Stammstreckentunnel aufgrund von Bauarbeiten gesperrt. Über der hässlichen Deckenverkleidung des Tiefbahnhofs brennt Sonne auf Asphalt, Sommerferien. Wer es sich leisten kann, ist weg, Ferienhaus in Südfrankreich, Backpacking in Vietnam, All inclusive auf Kreta, schlimmstenfalls auch Saufurlaub auf Malle oder Verwandtschaftsbesuch in Hoyerswerda, Hauptsache weg, was weiß denn ich.

Ferien zu Hause

Wer nicht weg ist, tut zumindest stundenweise so, als befände er sich im Urlaub. Entdeckt das Umland auf dem Fahrrad, springt in den nächsten Badesee, zieht blank im Park – oder eben steigt bepackt mit Badesachen in die U6 in Richtung Hausen, statt notorisch über Verspätungen zu meckern.

So wie auch ich an diesem Sommertag, recht lädiert vom frühen Dienstbeginn. Frühschicht, das bedeutet für mich nicht „dann hab‘ ich wenigstens noch was vom Tag“, vielmehr allerdings: „Mit Ach und Krach reicht der spärliche Rest meiner Energie noch für gedankenloses Dösen aus“. Entsprechend teilnahmslos schiebe ich mich in die mintgrüne Untergrundbahn der VGF. Statt telefonierender Anzugträger und tütenschleppender Primark-Opfer ist die Bahn bevölkert von Großfamilien auf dem Weg ins Freibad. Viele Kinder, sehr viele Kinder, sehr sehr viele Kinder tragen Badeuntensilien in neonfarbenen Taschen und nerven ihre Eltern und wehrlose Mitreisende wie mich. „Sind wir bald da?“, „wann kann ich Pommes haben?“, wird gequengelt. „Ich kann schon sooooo weit schwimmen“, kleine Ärmchen werden auf eine Breite von sechzig Zentimetern ausgebreitet. „Hach ja“, denk ich mir, „die schönste Zeit des Jahres!“ – und stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren. Wähle ganz bewusst die „Wohlstandskinder“ (kennt die eigentlich noch jemand?), der ganz persönlicher Soundtrack zu meiner frühen Jugend. Ich denke zurück an meine eigenen Schulferien, ja, waren die langen Tage im Freibad nicht immer die schönsten, aufregendsten und unbeschwertesten in meinem Leben gewesen? Insofern mache ich doch das einzig Richtige: Nämlich Feierabend und ab in die Badeanstalt, einfach so, ganz so wie früher, gänzlich… unbeschwert, zumindest annähernd.

„Nächster Halt: Fischstein“, gemeinsam mit den sehr vielen Kindern und ihren schon jetzt überforderten Eltern schiebe ich mich hinaus in die Sommerhitze. Selbst auf der Ludwig-Landmann-Straße knutschen keine Stoßstangen, auch hier wirkt die Stadt ein Stück weit verlassen, vom Sommerloch verschluckt. Auch ich war eine Woche weg, Wandern in der Sächsischen Schweiz. Ansonsten viel mit dem Fahrrad unterwegs, Großstadtflucht eben. Hier und da mal ein Artikel für einen meiner Auftraggeber, ansonsten aber: Kreative Flaute im Oberstübchen, lieber verschlang ich in den letzten Wochen Bücher am See oder wandelte über Hängebrücken im Hunsrück.

Die Helden von der Liegewiese: Ein rosaroter Blick zurück

Der Eintritt, so viel steht fest, war früher auch mal günstiger: Hatte ich nicht damals noch drei Mark für die Tageskarte im Dorffreibad gelöhnt? Heute sind’s fünf Euro, Augen zu und durch, hinaus auf die weiten Wiesen des Brentanobads, die auch mal grüner ausgesehen haben. Die Badehose hab‘ ich drunter, und während ich mir ungelenk die Jeans abstreife, halte ich Ausschau nach den Nilgänsen. Das Vogelvieh produziert nämlich gerade so Einiges an Schlagzeilen – und soll demnächst mit dem Schießgewehr direkt vor Ort, hier in der Badeanstalt, mit dem Schießgewehr erlegt werden.

A propos Schlagzeilen:
Auch im Lokalteil meiner Zeitung herrscht ein düsteres Sommerloch. Der Oberbürgermeister ist (wieder-)gewählt, die ersten Straßenfeste sind gefeiert, das Ostend nahezu fertiggentrifiziert. Die neue Altstadt zwar noch nicht offiziell, aber weitgehend eröffnet. Heute aber wird über ein versteinertes Federvieh von Archeopteryx, welches ins Senckenbergmuseum einzieht, in einem Ausmaß berichtet, als stünde eine Fusion Frankfurts mit Offenbachs kurz vor der Türe. Oder aber auch von einem Wels im Offenbacher Dreieichweiher, welcher sich erdreistete, flauschige Entenküken zu verschlingen. Nun ja, auch Politiker und Redakteure wollen einmal durchatmen. Wer weiß, vielleicht liegt ja einer von ihnen neben mir auf dem verbrannten Rasen?

Ich mustere also ein wenig die anderen Badbesucher. Eine Mutter hat Wassermelonenstücke für ihre Kinder mitgebracht. Ich habe Zigaretten mitgebracht und zünde mir eine an. Ich schaue ein wenig in die Wolken da oben am Himmel über mir und puste ihnen Rauch entgegen. Einzelne der Kondensmassen formen lustige Tierchen, grimmige dreinblickende Hexen und – ja, tatsächlich – eine Dampflokomotive.

Kurz verfalle ich zurück in rosarote Freibad-Nostalgie. Doch rein objektiv betrachtet liegt hier schlicht ein Um-die-Dreißiger auf einer karierten Decke inmitten einer Großstadt. Ein Erwachsener, der im Supermarkt gesiezt wird und keine Schülerausweise mehr fälschen muss, um Apfelwein zu kaufen.

Ein Erschöpfter, der umringt ist von muskulösen Jungs mit den mutmaßlichen Namen ihrer Kinder auf ihren Unterarmen und in sich hineinlacht.

 

Nebenan:
Eine Horde Halbstarker mit Bluetooth-Lautsprecher. “Bruder, lass’ mal Shisha!” – sollten das etwa die coolen Kids von heute sein? In meiner Erinnerung da waren doch wir, ganz klar, die Könige der Liegewiese. Wir hatten keine Bluetooth-Lautsprecher, wir hatten ein Nokia 3210. Statt Shisha rauchten wir Zigaretten für fünf Mark. Kurz werde ich traurig, blicke hinüber zum Roman, der noch immer neben mir liegt. Doch zum Lesen fühle ich mich zu müde. „Made in Türkiye“, dröhnt Rap-Gerotze aus Richtung der Halbstarken. Irgendwas mit Ghetto, niemand solle sich mit dem Rapper anlegen, weil er und seine Brüder ihn dann wohlweislich fickten. Wie soll sich so jemals das Gefühl der Unbeschwertheit von Damals einstellen? Wo sind die ersten Küsse unter dem Wasserfall geblieben, wohin ist das Adrenalin auf dem Dreimeterturm?

Vom Zerfließen der Inspiration und dem Geficktwerden

Ich dreh‘ mich auf den Bauch und lege meinen Kopf zur Seite. Ein Bügel meiner Sonnenbrille malträtiert meine Schläfe. Schön, dass sie noch da ist – nur wünschte ich, dahinter befände sich nicht gerade ebenfalls ein großes Sommerloch. Während der unbekannte Rapper seinen Drogenkonsum lyrisch verarbeitet und dabei „Koks“ auf „tot“ reimt, brüllt es nun auch von rechts herüber. „Kann ich Eis, Mama?“

Herrgott, kann ICH denn vielleicht einfach mal meine Ruhe haben? Kein Wunder, dass auch jegliche Inspiration zerfließt wie eine Kugel Erdbeereis bei dreißig Grad. Freibad, da bin ich mir nun ganz sicher, hat sich früher anders angefühlt. Wo sind die Jungs, die ich im Wasser tunken kann? Wo sind die Mädchen, die ich mit einem Salto vom Dreier in Entzückung zu versetzen gedenken kann? Ich rauche noch eine Zigarette und erhebe mich mühsam von meiner Decke. Springe ins kalte Wasser, bekomme eine Gänsehaut. Immerhin die funktioniert noch wie früher.

Ich lasse mich ein wenig treiben, rudere hin und wieder mit den Armen, um nicht unterzugehen. Mein Kopf freut mich auf jene Zeit nach dem Sommerloch, irgendwann im August. Wenn U-Bahnen wieder voll und Bäder leer sind. Wenn possierliche Tierchen aus den Lokalnachrichten verschwunden und Halbstarke in der Schule sind. Wenn die Straßen wieder verstopft sind, bei Sommerwerft und STOFFEL das kulturelle Leben wieder tobt. Wenn endlich wieder über verspätete S-Bahnen gemeckert wird. Dann, so hoffe ich, werde auch ich zurück in meine schöpferische Routine gefunden haben.

Mit der schönen Gewissheit, dass auch das schwärzeste Sommerloch irgendwann zu Ende ist, lasse ich mich von der Sonne trocknen. “Einer von Milliarden”, singen die Wohlstandskinder in meine Gehörgänge. Immerhin wollen sie mich nicht ficken. Ob sie Drogen nehmen, weiß ich nicht. Das Schwimmbecken des Brentanobades verfügt derweil über nur knapp 10 Millionen Liter feuchten Nasses. Die reichen dennoch aus für den Titel des größten Freibades der Republik. Doch was hilft’s, wenn sich nichts mehr nach Freibad anfühlt? Auf dem Heimweg spiele ich noch kurz mit dem Gedanken, mich in ein Café zu setzen und ein wenig kreativ zu sein. Entscheide mich dann aber kurzfristig dafür, eine Langspielplatte zu erstehen. „13 Höhepunkte mit den Ärzten“, ein weiterer Soundtrack meiner Dorfjugend, ihr wisst schon. Nachdem ich in vier verschiedenen Plattenladen erfolglos nachgefragt habe, bestelle ich online. Wieder ist ein Sommertag zu Ende.

Eine letzte Zigarette auf dem Balkon, vom Matthias-Beltz-Platz unter mir ertönt Gejohle und Gelächter. „Ruhe da unten, oder ich ruf‘ die Bullen!“, brüllt eine Nachbarin hinab.

So fühlt sich wohl der Sommer heute an. Fühlt euch gefickt, Leute. 

Public Dösing: Früher war auch mehr Deutschland

Die Sonne knallt erbarmungslos am Himmel, der Nordendasphalt brennt sich in meinen Nacken. Ein heißer Sommertag im Jahr 2018, Fußballweltmeisterschaft. Vorrundenspiel, Deutschland gegen Südkorea, Anpfiff: 16 Uhr. Am Matthias Beltz-Platz haben sich jene Glücklichen zum Public Viewing eingefunden, die früher Feierabend machen konnten – oder gar nicht erst auf der Arbeit waren.

Auch ich habe mich eingefunden, kalte Cola vom GUDES nebenan, wer trinkt schließlich schon am Nachmittag Apfelwein? Nun, doch so Einige, verrät ein kurzer Blick zur Schlange vor dem Büdchen. Dort stehen sie an und verrenken ihre Hälse, bloß nichts von dem verpassen, was auf dem Fernseher so vor sich geht. Nicht, dass das Sinn ergäbe: Die Sonneneinstrahlung sorgt nicht nur für braune Haut, sondern auch dafür, dass man allenfalls Konturen auf dem Flachbildschirm erahnen kann.

Ohren auf und Augen zu

Ich selbst war schon zur zweiten Spielminute zum “Public Listening” übergegangen, nachdem ich einen schönen Platz neben einer gleichfalls schönen Frau gefunden hatte. Himbeeren zieren die Decke, die sie ausgebreitet hat. Sie hat mir einen Platz auf ihr angeboten, ich lehnte dankend ab. Sie selbst ziert ein Deutschlandtrikot, man sieht nicht viele davon.

Links neben mir thront ein Mann im mitgebrachten Campingstuhl, hinter mir rollt der Verkehr der Friedberger Landstraße. Ich überlege kurz, wie viel Feinstaub ich wohl mit jedem Atemzug in meine Lunge blase. Verwerfe den Gedanken, zünde eine Zigarette an. Milchbubis eilen von der Straßenbahnhaltestelle herüber, sie tragen Anzüge und einen Sixpack Büble Hell.

“Özil am Ball”, die Stimme des Kommentators wird lauter, doch: Chance vertan. Zuhören, dachte ich mir, kann ich auch im Liegen, warum also nicht das Spiel für eine kleine Siesta nutzen? So liege ich da, atme ein und atme aus. “Ein weiter Pass zu Kroooooos”, ich schließe die Augen und genieße die Wärme im Gesicht.

Die Zeit vergeht schneller, als ich dösen kann. Am Ende der ersten Halbzeit steht es Null zu Null. Ebenso bemerke ich, dass auch die Anzahl der zu sehenden Deutschlandfahnen exakt Null beträgt. War früher nicht mehr Deutschland?

 

Wir waren jung, wir waren frei: Ein Sommermärchen

Ich muss zurückdenken an jenen Sommer vor 12 Jahren. 2006, ein Sommermärchen. Wir waren jung, wir waren frei, wir hatten einen Fahrschein für den Regionalexpress nach Frankfurt. Schon auf dem Weg in die große Stadt vernichteten wir Unmengen an “Licher x²” (gibt’s das eigentlich heute noch?), es war ein tolles Gefühl. Endlich volljährig, endlich raus aus der Provinz, Trikot an ins Abenteuer. Nach der Ankunft am Frankfurter Hauptbahnhof: Noch mehr Bier kaufen bei Rossmann, ein Kumpel packte mit den Worten “Ist doch im Angebot!” noch eine Tube Enthaarungscreme mit ein, befreite noch während der S-Bahn-Fahrt in die Innenstadt seine Unterarme vom Haarwuchs. Warum er das tat, ist bis heute ungeklärt. Aber eine jener Anekdoten meiner Jugendzeit, an die ich immer wieder denken muss. So wie jetzt gerade. 

In der “Fan-Arena” angekommen, stürzten wir uns ins schwarzrotgoldene Getümmel. Unter dem Fahnenmeer feierten mehr Menschen als unsere Kleinstadt Einwohner hatte, noch vor dem Anpfiff sprachen wir fremde Mädchen an. Manche davon besuchten wir später auch zu Hause. Ein Videowürfel mitten im Main zeigte das, weswegen wir vordergründig hier waren: Fußball. Doch eigentlich, da waren wir des Feierns wegen hier. Das Spiel? Nebensache. Der Sieg? Selbstverständlich. Siegesrausch, noch eine Runde Bindig Pils aus Plastikbechern. Nach Hause? Keine Option, stattdessen hieß es Weiterfeiern auf dem Römerberg. Irgendjemand “lieh” sich einen Einkaufswagen von einem Supermarkt, wir fuhren Rennen damit, kletterten auf Ampeln. Narrenfreiheit unter dem Deckmantel des Fußballs, “Schlaaaand-Deutschlaaaand!”, Mädchen schmierten Nationalfarben in unsere Gesichter.

Ich fühle Wehmut in mir aufsteigen, als mich laute Rufe aus meinen Erinnerungen reißen. “AUF JETZT!!!” brüllt jemand da vorne, ich hebe kurz den Kopf. Die Partie geht weiter, die zweite Halbzeit bricht an. Immer noch Null zu Null, immer noch spüre ich die Hitze im Gesicht. Ich schmunzele kurz über meine Erinnerungen. Ist der Mensch nicht dazu geneigt, Vergangenes zu verklären? Fühlten sich die Freibadbesuche in den Sommerferien in der Erinnerung nicht auch weitaus unbeschwerter an, als sie es tatsächlich waren?

Heute keine Autokorsos

Gomez kommt, Khedira geht. Ich bleibe noch hier, lasse meinen Kopf auf den heißen Asphalt sinken. Ich döse weiter, der Duft von Cannabis steigt in meine Nase. In Frankfurt ist man da ja recht tolerant. Alles gut, zumindest hier – im fernen Russland jedoch kämpft die Nationalmannschaft nunmehr spürbar gegen ein Aus in der Vorrunde an. Wie lange es dann wohl dauern würde, bis die wenigen Deutschlandflaggen im Nordend für zumindest zwei Jahre lang eingerollt würden? Das Mädchen auf der Himbeer-Decke unterhält sich mit einer Freundin über ihr Studium, der Schiri gibt Eckball. Der Feierabendverkehr fällt dünner aus als sonst, dennoch reißen die Motorengeräusche nicht ab. Der Sonne ist’s egal.

Als ich die Augen wieder öffne, ist ein Tor gefallen. Nicht für Deutschland, für Südkorea. Ich richte mich auf, nehme einen großen Schluck aus meiner Colaflasche. Nein, ich möchte nicht noch einmal achtzehn sein. Ja, ich bin froh, dass Frankfurt längst mein Alltag statt nur promillelastiges Abenteuer ist. Nichts gegen Abenteuer. Noch während der Abpfiff das Ende des Turniers für die Nationalmannschaft besiegelt, schlurfe ich zu meinem Fahrrad. Ich bin verabredet und muss weiter ins Europaviertel.

Autokorsos wird es heute keine geben. Als ich in die Pedale trete und die Friedberger Landstraße hinab fahre, klingele ich einmal. 

 

Warum ich hier bin.

„Und? Warum genau bist du hier?“

Ich neige meinen Kopf zur Seite und blicke in das schöne Gesicht der Frau, die – ohne es geahnt haben zu können – meine Gedanken ausgesprochen hat.

Ich stehe vor dem kleinen Fenster des Raucherraums, bis eben noch starrte ich hinaus auf die Tanzfläche des Kellerclubs. Züge an der Gauloises. Nicht, dass man hier drinnen eine Zigarette anzünden müsste, um zu rauchen. Schlichtes Einatmen reichte vollkommen, doch die Gewohnheit hatte gesiegt.

Bis eben waren wir zu zweit, mein Bekannter und ich, beide mit Apfelwein in der Hand und Zigarette im Mundwinkel. Ganz sicher ließ sich unser Miteinander auch einmal etikettieren, doch war das Band unserer Freundschaft längst zerschnitten worden von der Klinge des Banalen. Nicht, dass wir es jemals böse miteinander gemeint hatten, nicht, dass wir uns je gestritten hätten.Doch schien die Vorliebe für laute Musik und Apfelwein allein auf Dauer nicht ausreichend für eine Freundschaft, und so waren wir eben schleichend in stiller Übereinkunft Bekannte geworden.

So stehen wir also hier, an diesem Samstagabend, in diesem stickigen Raucherzimmer mit dem Tischkicker – und haben uns außer “Prost” nicht viel zu sagen. Doch seit eben leistet uns diese fremde Frau Gesellschaft, und allein des Anstands halber sollte ich nun nicht länger schweigen. Denn immer noch blickt sie mich mit aufrichtiger Neugierde an und wartet auf eine Antwort.

 

Frankfurt lädt zum Tanz

“Weil ich nichts besseres mit meiner Zeit anzufangen weiß”, versuche ich es erst einmal im Scherz. Sie lacht, immerhin. “Echt jetzt?”

Tja, was sie wohl denken würde, wüsste sie, wie viel Wahrheit doch in meiner als kleiner Scherz getarnten Antwort steckte? “Na denn, zum Wohl!” sagt sie, Apfelweinglas stößt auf Bierkrug. Klock. “Aber mal im Ernst…”, ich erzähle irgendetwas von einem Kumpel, den ich lange nicht mehr gesehen habe und mit dem ich einmal wieder feiern gehen wollte.

Noch eine Zeit lang stehen wir schweigend nebeneinander, mein Bekannter, ich, und die unbekannte Dritte mit dem schönen Gesicht. Wir starren aus dem Fenster und sehen die sich im bunten Licht bewegenden Silhouetten, Bässe treffen auf Trommelfelle, Frankfurt lädt zum Tanz.

Gern hätte ich der Unbekannten die ganze Wahrheit erzählt, hatten sich meine Synapsen doch bereits auf die Suche einer Antwort auf ihre Frage aller Fragen begeben. Gern hätte ich ihr gestanden, dass ich selbst nicht genau weiß, warum ich eigentlich hier bin. Doch ist und bleibt die junge Frau eben Fremde, auch wenn sie immer noch lächelt, sogar während sie noch einen Schluck Bier nimmt.

Ich tue es ihr gleich, wer trinkt, der muss nicht reden, noch eine Zigarette anstecken, “hast du Feuer für mich?” – “na klar”. Ich werde nachdenklich, setze dabei selbst ein Grinsen auf. Ein Lächeln ist immer noch die beste Tarnung, diese Lektion hatte ich früh gelernt.

Kein Morgen mehr… oder doch?

Ja, vielleicht bin ich einfach nur hier, weil Samstagabend ist, weil ich ausnahmsweise frei habe, an diesem “Tage aller Tage”. Vielleicht, weil mich eine süße Erinnerung an durchtanzte Nächte hierher gelockt hat, weil ich nicht vergessen habe, wie auch ich einmal den Rausch genießen konnte. Vielleicht aber auch ganz einfach, weil ich nichts verpassen wollte. Es war ja schließlich Samstagabend.

“Also ich bin hier”, setzt meine Nebenfrau zur Erklärung an und reißt mich aus meinen Gedanken, “weil eine Freundin heute hier Geburtstag feiert”. Normalerweise sei das “nicht so ihr Laden”, sagt sie – und deutet ironisch mit dem Kopf schüttelnd auf die Tanzfläche, auf der einige gemeinsam, die meisten aber nur für sich selbst tanzen.

Ich würde lügen, würde ich behaupten, ich würde nicht gern tauschen wollen, mit all den verschwitzten Menschen da draußen vor der Scheibe. Gern würde ich so tanzen wie sie es taten, als ob es kein Morgen gäbe, niemals, als befände sich die Welt tatsächlich einmal nur hier und nur jetzt.

Allein: Ich kann es nicht. Nicht mehr, ich weiß es nicht. Ich vermag mich nur dunkel an das Gefühl erinnern, das ich noch spüren konnte, als auch einmal nichts weiter tat als inmitten einer fremden Menschenmenge zur Musik zu tanzen. An die Euphorie, die mich durchströmte, als ich mich inmitten einer fremden Menschenmenge zur Musik bewegte, bis es hell war. Bis ich nicht nur die Zeit, sondern auch alles vergessen hatte.

Vergessen wollen und vergessen sollen

Vergessen, nein, das kann ich längst nicht mehr. Und will es auch nicht, glaube ich. Welch Leben führte ich, würde ich es stets pünktlich zum Wochenende vergessen wollen?

Nein, deswegen bin ich ganz sicher nicht hier. Ich fühlte mich bis eben recht wohl in meiner Rolle des stillen Beobachters, doch nun fühle ich mich von den zwei dunklen Augen merkwürdig ertappt.

Ja, ich erinnere mich nur allzu gut an all die Verheißungen der Nacht, an das aufregende Gefühl, nicht zu wissen, wie und wo ein Abend enden wird. Doch ebenso gut erinnere ich mich an den Kater am Tag danach, an die nüchterne Erkenntnis, dass auch über die wildeste Nacht der Alltag zuverlässig und gnadenlos hereinbricht. Die Welt, auf die ich durch das kleine Fenster blicken kann, das weiß ich, ist eine Scheinwelt.

Was also mache ich hier? Ja, ich würde dieser Scheinwelt noch immer gern erliegen können, würde den Augenblick noch immer gern beschränken können, einzig auf Bewegung und Musik. Doch stünde ich nun auf der anderen Seite des kleinen Fensters, käme ich mir fehl am Platze. Tanzen würde vor allem mein schlechtes Gewissen, und zwar weit mehr als Tango.

Ich weiß genau, wie ich den morgigen Tag verbringen würde, ich weiß genau, während welch Sonnenstunden ich im Bett liegen würde, weiß, dass auch die längste aller Nächte die Sorgen aus dem Gestern hinein ins Morgen katapultiert. Zwar ist die Nacht verlockend, doch der Tag ist ehrlich.

 

So ist das wohl mit dem Älterwerden

Vielleicht bin ich tatsächlich allein aus einer Angst vor dem Verpassen hier. Vielleicht, weil sich in mir noch immer jene Sehnsucht verbirgt, die mich mahnt, bloß nichts zu verpassen: Die Unbekümmertheit, die kurzen, verschwitzten Berührungen, die U-Bahn am Sonntagmorgen. Das Bier am Kiosk, weil die nächste Bahn erst in einer halben Stunde kommt. Vielleicht ist das hier ein Versuch, Geschichten zu wiederholen.

Mit den unscharfen Bildern dieser Geschichten im Kopf leere ich mein Glas. Es wird das Letzte sein für heute, das weiß ich. Denn das schwerelose Gefühl der Unbekümmertheit würde sich auch nach fünf weiteren nicht mehr einstellen. So ist das wohl mit dem Älterwerden.

Männer brüllen hinter uns am Tischkicker, der längst mehr Abstellplatz für Bierflaschen denn Sportgerät ist. “Bis neulich bin ich noch durch Asien gereist”, verrät mir meine nächtliche Bekanntschaft. “Und dann kam wieder Frankfurt”.
Ich glaube zu ahnen, wie sich bei ihrer Wiederankunft gefühlt haben muss.

Nein, ich empfinde mich nach wie vor nicht als Spaßbremse. Nur empfinde ich mittlerweile an anderen Dingen Freude. Ich weiß nicht genau, ob ich das bedauern soll. Für diese Dinge muss ich nicht einmal um die halbe Welt reisen – bekanntlich fühle ich mich in Frankfurt nämlich ziemlich wohl. Auch, wenn das “Wollen” mitunter nicht immer einfach und eindeutig ist. Ich seufze.

“War nett, viel Spaß euch noch!”, verabschiedet sie sich. Ich bin mir sicher, dass ihr Weg sie nicht auf die Tanzfläche führen wird.

“Ja, war nett. Viel Spaß noch…” murmele ich, bevor auch ich mich verabschiede. Ich schreite zur Garderobe, nehme meine Jacke und gehe nach Hause. Es ist gerade einmal halb zwei.

“Morgen gehe ich ins Café”, beschließe ich, noch während ich auf der Zeil Grüppchen mit Musik aus dem Handy und Wodkaflaschen passiere. Ich werde klaren Kopfes die ersten Sonnenstrahlen dieses Jahres genießen und in meinem Buch lesen.

Und vor allem: Ich werde wissen, weshalb ich dort bin.

 

Ein Wort zum Sonntag – und was das mit Sachsenhausen zu tun hat….

Ich hasse Sonntage.

Ja, das muss ich an dieser Stelle so deutlich sagen, da gibt es nichts zu beschönigen, auch wenn ihr Leser mir nun vermutlich einen kollektiven Vogel zeigen werdet.

Schließlich gilt der siebte Wochentag gemeinhin als der gemütlichste, endlich ausschlafen, anschließend das Bett mit den kalten Pommes der Samstagnacht vollkrümeln, dabei binge-watchen bei Netzflix. Was soll man auch draußen?

 

Wegnicken vorm TATORT

Draußen, da verpasst man eh nichts, eine Stadt schläft ihren Rausch aus. Gespenstische Leere sogar auf der Zeil, nein, da bleibt man lieber gleich im Bett liegen und wechselt erst am frühen Abend aufs Sofa, nochmal Tinder checken, anschließend beim TATORT wegnicken. Aber ist ja sowieso schon wieder Schlafenszeit, schließlich gilt es, am Montagmorgen einigermaßen arbeitstauglich im Büro aufzuschlagen.

Für mich dagegen ist der Sonntag meist ein regulärer Dienst-Tag, sodass ich den Sonntag als solchen meist nur daran erkenne, dass mein Briefkasten keine Frankfurter Rundschau beinhaltet und ich stattdessen die BILD am Sonntag lese.

Wenn ich aber – und das kommt selten vor! – dann doch einmal frei habe am heiligen Tage, dann verfluche ich die geschlossenen Geschäfte, die Freunde, mit denen katerbedingt nichts anzufangen ist, die bleierne Schwere, die sich über das Gemüt meiner Stadt gestülpt zu haben scheint. Auch nervt das ewige Warten auf U- oder S-Bahn, schließlich gilt der Sonntagsfahrplan des RMV. Die Busse mancher Linie bleiben gleich ganz im Depot stehen, ist ja eh niemand unterwegs. Irgendwann dann musste ich meine seltenen freien Sonntage zu Großstadtflucht-Tag erklären, an denen ich Wandern gehe oder Radtouren unternehme. Hauptsache raus aus meiner Stadt, die im Koma zu liegen scheint. Anschließend dann schlage ich drei Kreuze, sobald endlich wieder Montag ist, der gewohnte Trubel wieder eingesetzt hat – und komme mir dabei zuweilen recht eigenartig vor, schließlich gilt der Montag schlichtweg als derjenige der Wochentage, an dem sich Otto Normalarbeiter gern sprichwörtlich übergeben möchte.

 

Shisha-Bars und Auf-die-Fresse

Außerdem verfolge ich recht strebsam die lokale Berichterstattung. Beinahe wöchentlich muss ich dabei lesen, dass sich in Sachsenhausen (und insbesondere in Alt-Sachsenhausen) wieder einmal böse Sachen zugetragen haben. Genauso häufig aber ebenso, dass eine Bürgerinitiative dem Treiben im in gewissen Kreises schlicht als “Alt-Sax” bezeichnete Viertel ein Ende setzen und einen Beitrag zu dessen längst überfälliger Aufwertung leisten mag.

Und tatsächlich ist es so, dass man als Frankfurter herzlich wenig Gründe dazu hat, einen Abend in Alt-Sachsenhausen zu verbringen. Es sei denn, man empfindet zufällig eine große Leidenschaft für orientalische Wasserpfeifen, Wodka-Energy für Einsfuffzich oder schlechte Musik in einem Abklatsch einer bajuwarischen Schankwirtschaft.

Klar, es gibt sie, kleine Enklaven wie die großartige Klapper 33, das wirklich stilvolle Old Fashioned oder die zwar etwas elitär anmutende, dafür umso bemerkenswertere Bar BoneChina. Dennoch sollte man einen Besuch Alt-Sachsenhausens tatsächlich tunlichst vermeiden, insbesondere Freitag- und Samstagabends.

Dies wurde mir einmal wieder schlagartig bewusst, als ich neulich freitags auf einen Feierabend-Schoppen in der “Klapper” verabredet war. Kaum hatte ich am Paradiesplatz geparkt und war aus dem Auto gestiegen, fragte mich ein Kerl mit der Statur eines Wandschranks, ob ich Probleme habe, während er eine Flasche “Russian Standard”-Wodka im Mülleimer versenkte. Dieser Umstand bewies zwar Bewusstsein für eine reinliche Umwelt, dass hinter seiner Ansprache jedoch selbstlose Hilfsbereitschaft steckte, wagte ich zu bezweifeln.

Strammen Schrittes marschierte ich also davon, wurde jedoch bald beinahe von einer Horde Polizisten umgerannt, die sich auf eine Gruppe Halbstarker stürzten, die ihre Fäuste hatten fliegen lassen. Nebenan erbrach sich ein Mädchen auf das Kopfsteinpflaster, das ansonsten weniger von Einheimischen als von halbstarken Bauernkindern aus dem Umland und den vielzitierten Junggesellenabschieden aus der Eifel bevölkert war, die es wohl “in der großen Stadt mal so richtig krachen lassen wollten”.

Rühmliche Ausnahme:
Gin Tonic-speiender Elefant in der Bar “Blue China” 

Nach einem einzigen Sauergespritzten trat ich dann auch wieder meinen Heimweg an, ich fühlte mich nicht wohl und gestresst. Ich wich zerbrochenen Flaschen auf den Straßen aus, starte beim Warten auf den Nachtbus hinüber zum “Dönerstrich”, an dem wahlweise gekübelt oder sich wankend ein Döner ins Gesicht geschmiert wurde – und vermisste die Gemütlichkeit, die dieses Viertel tatsächlich manchmal ausstrahlt. Nämlich unter der Woche. Und dachte daran, dass mir ausgerechnet Samstagabend neulich erst den verhasstesten aller meiner Tage gerettet hatte – den heiligen, verfluchten Sonntag…

 

Von einer Sonntagnacht in – ausgerechnet! – Sachsenhausen

Der Fairness halber muss an dieser Stelle erwähnt hat, dass Frankfurt-Sachsenhausen tatsächlich mehr zu bieten hat außer Absturzkneipen und Auf-die-Fresse. So zum Beispiel die beiden traditionsreichen Apfelweinwirtschaften “Zum gemalten Haus” und “Apfelwein Wagner”, welche direkt nebeneinander liegen und nicht ausschließlich von Touristen aus Fernost besucht werden, die sich – unfreiwillig komisch wirkend – am Verzehr von Eisbein mit Kraut und Apfelwein versuchen. Auch zahlreiche Frankfurter Originale scheinen hier unverändert seit mehreren Jahrzehnten vor ihrem Schoppen zu sitzen – nur ich, ich war bislang nie dort gewesen. Es war an der Zeit, das zu ändern. Und es war Sonntag.

Gegen 21.30 beendete ich meinen Dienst, war daraufhin mit einer meiner liebsten Frankfurter Bekanntschaften im “gemalten Haus” verabredet.Ich war zu früh oder sie zu spät, so genau lässt sich das nicht sagen, jedenfalls wurde ich vom Kellner in bester Frankfurter Manier wortlos auf einen freien Platz gedrückt und bekam ohne weiteren Wortwechsel einen Schoppen vorgesetzt.

So also ließ ich meinen Blick streifen, bewunderte all die wunderschönen Wandgemälde, beobachte grinsend einer fernöstlichen Touristenhorde beim Schlachtplattenverzehr.

 

Groß war meine Freude, als ich auch meine liebe Bekannte erblickte, gemeinsam trinken, rauchen und plauschen, mir fehlte es an nichts. Doch schnell ereilte er mich wieder der Sonntag, der Kellner verkündete wortkarg, nun die letzte Bestellung aufzunehmen, es sei ja schließlich Sonntag, da wolle man früh schließen. Ich verfluchte einmal wieder diesen furchtbarsten aller Wochentage, meine liebe Bekannte jedoch zeigte sich zuversichtlich, noch einen Drink in der Nähe einnehmen zu können. Dass dabei sie morgen arbeiten musste, während ich fein ausschlafen konnte, schien ihr dabei egal.

Ich blieb skeptisch, denn erstens war dies ein Sonntag, zweitens war dies hier Sachsenhausen. Doch ehe ich mich versah, nahmen wir nach kurzem Fußweg Platz in der Hopper’s Bar, aufs freundlichste begrüßt von der flinken Bar-Tenderin. Und das keinesfalls alleine, auch in den einzelnen Ecken und Winkeln hatten sich Frankfurter niedergelassen, die in der Nacht von Sonntag auf Montag offensichtlich ebenfalls nichts besseres zu tun hatten. Kaum zu glauben, wie behaglich ich mich ausgerechnet in Sachsenhausen fühlen konnte! Dezente Hintergrundmusik waberte durch den großen Raum mit der wunderbaren Retro-Tapete, Rauchschwaden indes leider nicht. Meine Begleitung bestellt “den Cocktail in dem kleinen Glas mit Zuckerrand” (gemeint war ein Margarita), ich meinen innig geliebten White Russian. Und der war ziemlich gut, sodass recht bald ein zweiter folgte – bis dann, mittlerweile war es gegen halb drei, auch diese Bar ums Bezahlen und anschließende Verlassen bat.

 

Frankfurt ist nicht Berlin. Vor allem sonntags nicht.

Doch wenn man sich gut unterhält, da mag man nicht nach Hause. Auch nicht irgendwann in der Nacht von Sonntag auf Montag, auch nicht in Sachsenhausen. Zielgerichtet wurde also die althergebrachte Kneipe Zum Sternchen am Diesterwegplatz auf einen Absacker angesteuert. Und, was soll ich sagen: Aus einem Absacker (der wohl der günstigste meines bisherigen Lebens war) wurden zwei, die Jukebox tat ihr übriges, und ehe man sich versah, schlug die Uhr fast vier. Zur Wahl blieb nun das Moseleck oder der Heimweg; wir entschieden uns für den Letzteren.

Hinausgetreten auf den Diesterwegplatz erfolgte Verwunderung: Kein Taxi weit und breit. Wir scherzten noch, in Berlin gäbe es das sicher nicht. Aber in Berlin hätten wir wohl auch jetzt noch weiterziehen können, im Zweifel ins Berghain. Ich entschied mich kurzfristig für die Anmietung eines Leihfahrrades (deren Anbieter es mittlerweile mehr als zur Genüge gibt), und fuhr durch die kalte Nacht hinauf ins Nordend.

Als ich ins Bett fiel, da war ich froh: Ausgerechnet im verschrienen Sachsenhausen hatte ich doch glatt vergessen, dass doch eigentlich Sonntag war. Und mit dem Gedanken daran, dass eigentlich schon wieder Montag war und die ersten Aktenkofferträger bereits schlecht gelaunt in der Straßenbahn saßen, schlief ich ein…

Danke, Sachsenhausen! Ausnahmsweise. 

Habt ihr Verständnis für meine abgrundtiefe Abneigung gegenüber dem Sonntag? Oder ist er unbestritten euer Liebster Wochentag? Und: Meidet ihr den Stadtteil Sachsenhausen? Oder hat er auch euch schon freudig überrascht? Ich bin wie immer schon ganz gespannt auf eure Kommentare!

 

Zwischen den Jahren

Es ist ein ein eigenartiges Gefühl, dieser Tage durch die Stadt zu schlendern.
Man selbst scheint gedanklich noch am Christbaum festzukleben, ja kann Weihnachten denn wirklich schon vorüber sein, während man durch die Straßen irrt, sich im Supermarkt ums Eck mit Feuerwerk und Wodka aus dem Angebot für die nahende Silvestersause eindeckt.

Frankfurt erscheint dabei befremdlich verlassen, in diesen Tagen Ende Dezember, “zwischen den Jahren”, wie man so schön sagt. Wo auf Mainzer- oder Friedberger Landstraße sonst die Autos Stoßstange an Stoßstange kleben, könnte man guten Gewissens seine Kinder spielen lassen. Im Restaurant bekommt man einen freien Tisch, ohne drei Wochen vorher reserviert zu haben – und auch in den U-Bahnen der Linie U4 lässt es sich ganz unversehen auf einem freien Sitzplatz niederlassen.

Der Alltag unserer Stadt, er hat Pause eingelegt. Kaum jemand muss ins Büro, viele Frankfurter genießen ihre verlängerten Weihnachtstage im Kreise ihrer Liebsten, irgendwo da draußen in dieser Republik. Sind verreist über Silvester, so oder so, sie sind: weg.

Nun, ich will mich nicht beschweren, habe doch auch ich meinen erheblichen Beitrag zu einem verlassenen Gesamteindruck, zu leeren Straßenzügen und U-Bahn-Zügen beigetragen. Über Weihnachten dienstlich unterwegs im Lande, habe ich meine anschließenden freien Tage beim Wandern im Taunus und traditionellem Ausflug nach Marburg verbracht. Wieder zurück, stimmt mich der Anblick meines verlassenen Frankfurts aber dennoch ein wenig schwermütig. Ungewohnte Ruhe. 

Einen freien Nachmittag mit Büchern im Café zu verbringen, wird zur Herausforderung. “Wir haben Urlaub!”, verkünden in geschwungenen Lettern Zettel hinter geschlossenen Glastüren ihre unheilvolle Botschaft. Und ein kurzer, heftiger Schneefall verkündet just zum Ende des Jahres, dass auch Frankfurt sich im Winter befindet.

Wenn der Alltag wieder einzieht

Neben mit kindlicher Freude auf verschneite Autoscheiben gemalte Herzen bleibt die wohlige Gewissheit, dass die Stadt schon ganz bald ihren Alltagsbetrieb wieder aufnehmen wird. Dass U-Bahnen wieder chronisch überfüllt, dass Cafés bevölkert, Straßen verstopft sein werden.

Schön zu wissen, dass die fleißigen Mitarbeiter am Neujahrstag die Spuren der Silvesternacht beseitigen werden, die Stadt anschließend wieder aussehen wird wie geleckt. Schön zu wissen, dass bald ein jungfräulicher Kalender an der Wand hängen wird, ein jeder Tag darauf neue Abenteuer verspricht. Dass auch 2018 Frankfurt Tag für Tag darauf wartet, entdeckt zu werden.

Ehe wir uns versehen, wird es Februar werden. Wir werden entweder stoisch die närrischen Tage ignorieren oder am Faschingssonntag im Kollektiv ausrasten auf dem Römerberg. Und vorher all unsere guten Vorsätze über Bord geworfen haben, uns gemütlich eine Zigarette anzünden – und zur Karteileiche im Fitness-Studio…

Wir werden ein neues Stadtoberhaupt wählen, über die geringe Wahlbeteiligung meckern. Werden uns über astronomische Mietpreise beklagen, dennoch brav Monat für Monat beträchtliche Summen auf die Konten glücklicher Immobilienbesitzer überweisen.

Wir werden uns über die Unpünktlichkeit der VGF beschweren, werden uns über Nachrichten aus dem Bahnhofsviertel erregen. Werden spätestens an Pfingsten Kummer und Sorgen im Stadtwald zu vergessen suchen, schließlich ist Wäldchestag. Werden mit den ersten Sonnenstrahlen hinausströmen in den Stadtwald und ans Mainufer, werden uns ganz sicher sein, dass dieses Jahr ganz sicher “unser Jahr” wird.

Werden ganze Stunden unserer Lebenszeiten in der Schlange vor dem Brentanobad verschwenden, werden glücklich sein, jede Distanz mit dem Fahrrad bewältigen zu können. Werden uns am MainCafé von der Sonne streicheln lassen, nach Feierabend unsere Picknickdecken ausbreiten und erst nach Mitternacht wieder einpacken.

Wir werden Ausflüge zum Langener Waldsee unternehmen, Radtouren an der Nidda, Wanderungen auf den Feldberg. Geliebte Geschäfte werden schließen, darin anschließend Burger-Bratereien eröffnen.

Wir werden beim “STOFFEL” lange Sommernächte verbringen, werden vom Sommerurlaub gebräunt all die vielen Straßenfeste zelebrieren. Werden über Flohmärkte schlendern, uns über unverschämte Preise am Opernplatzfest und zu wenig Platz und Handyempfang am Museumsuferfest beschweren. Wir werden feiern, werden tanzen, werden uns aufregen über wilde Mietfahrrad-Ansammlungen in den Innenstadt. Werden uns bei der Bahnhofsviertelnacht durchs Gedränge schieben und am Ende dennoch mit kaltem Bier in der Hand vor dem nächstbesten Kiosk landen. Werden mal wieder viel zu lange unterwegs sein, auf dem Weg nach Hause nach genau einem Gin Tonic zu viel noch ein Katerfrühstück beim Bäcker erstehen.

Ja, bis wir dann irgendwann die fallenden Blätter im Ostpark beobachten, feststellen, dass die warmen, langen Tage schon vorüber sind. Werden öfters in Museum und Theater gehen, irgendwann feststellen, dass alle Straßenfeste gefeiert sind. Und feststellen, dass wir schon jetzt mal wieder – oh yeah! – viel zu viel Geld für unnützen Scheiß auf der Zeil ausgegeben haben werden.

 

Alles wie immer…

Doch bald schon, da ist Weihnachtsmarkt, und prompt folgt die Erkenntnis:
Ist das neue Jahr schon um? Ja, war denn nicht auch in diesem Jahr alles… irgendwie… wie… immer? 

Ja, das wird es ganz sicher gewesen sein. Das Kalendarium des Stadtlebens, es mag recht stetig sein und vorhersehbar. Doch das Geheimnis des Glücks, es liegt in jedem einzelnen dieser Tage, in all den Momenten, von denen ihr jetzt noch nicht wissen könnt, dass ihr sie erleben dürft. Doch kann es nicht auch ein ganz und gar wunderschönes Gefühl sein, eine Gewissheit unschätzbaren Werts, dass eigentlich alles doch so wird wie immer? Fein säuberlich im Lauf des Jahres terminiert und doch so spannend?

Jeder Eintrag im städtischen Terminkalender ist eine Versprechung.
Vertraut darauf, dass irgendetwas geschieht, auf die Verheißungen eines jeden Moments im neuen Jahr. Genießt das Gefühl, dass jede Sekunde des neuen Jahres Ungeahntes offenbaren kann, lasst euch von ganzem Herzen darauf ein. Von Stadt und Leben überraschen, statt Erwartungen zu hegen.

Denn Frankfurt ist, was du draus machst. 

In diesem Sinne: Einen guten Rutsch hinein ins neue Jahr 2018, Freunde!