Public Dösing: Früher war auch mehr Deutschland

Die Sonne knallt erbarmungslos am Himmel, der Nordendasphalt brennt sich in meinen Nacken. Ein heißer Sommertag im Jahr 2018, Fußballweltmeisterschaft. Vorrundenspiel, Deutschland gegen Südkorea, Anpfiff: 16 Uhr. Am Matthias Beltz-Platz haben sich jene Glücklichen zum Public Viewing eingefunden, die früher Feierabend machen konnten – oder gar nicht erst auf der Arbeit waren.

Auch ich habe mich eingefunden, kalte Cola vom GUDES nebenan, wer trinkt schließlich schon am Nachmittag Apfelwein? Nun, doch so Einige, verrät ein kurzer Blick zur Schlange vor dem Büdchen. Dort stehen sie an und verrenken ihre Hälse, bloß nichts von dem verpassen, was auf dem Fernseher so vor sich geht. Nicht, dass das Sinn ergäbe: Die Sonneneinstrahlung sorgt nicht nur für braune Haut, sondern auch dafür, dass man allenfalls Konturen auf dem Flachbildschirm erahnen kann.

Ohren auf und Augen zu

Ich selbst war schon zur zweiten Spielminute zum “Public Listening” übergegangen, nachdem ich einen schönen Platz neben einer gleichfalls schönen Frau gefunden hatte. Himbeeren zieren die Decke, die sie ausgebreitet hat. Sie hat mir einen Platz auf ihr angeboten, ich lehnte dankend ab. Sie selbst ziert ein Deutschlandtrikot, man sieht nicht viele davon.

Links neben mir thront ein Mann im mitgebrachten Campingstuhl, hinter mir rollt der Verkehr der Friedberger Landstraße. Ich überlege kurz, wie viel Feinstaub ich wohl mit jedem Atemzug in meine Lunge blase. Verwerfe den Gedanken, zünde eine Zigarette an. Milchbubis eilen von der Straßenbahnhaltestelle herüber, sie tragen Anzüge und einen Sixpack Büble Hell.

“Özil am Ball”, die Stimme des Kommentators wird lauter, doch: Chance vertan. Zuhören, dachte ich mir, kann ich auch im Liegen, warum also nicht das Spiel für eine kleine Siesta nutzen? So liege ich da, atme ein und atme aus. “Ein weiter Pass zu Kroooooos”, ich schließe die Augen und genieße die Wärme im Gesicht.

Die Zeit vergeht schneller, als ich dösen kann. Am Ende der ersten Halbzeit steht es Null zu Null. Ebenso bemerke ich, dass auch die Anzahl der zu sehenden Deutschlandfahnen exakt Null beträgt. War früher nicht mehr Deutschland?

 

Wir waren jung, wir waren frei: Ein Sommermärchen

Ich muss zurückdenken an jenen Sommer vor 12 Jahren. 2006, ein Sommermärchen. Wir waren jung, wir waren frei, wir hatten einen Fahrschein für den Regionalexpress nach Frankfurt. Schon auf dem Weg in die große Stadt vernichteten wir Unmengen an “Licher x²” (gibt’s das eigentlich heute noch?), es war ein tolles Gefühl. Endlich volljährig, endlich raus aus der Provinz, Trikot an ins Abenteuer. Nach der Ankunft am Frankfurter Hauptbahnhof: Noch mehr Bier kaufen bei Rossmann, ein Kumpel packte mit den Worten “Ist doch im Angebot!” noch eine Tube Enthaarungscreme mit ein, befreite noch während der S-Bahn-Fahrt in die Innenstadt seine Unterarme vom Haarwuchs. Warum er das tat, ist bis heute ungeklärt. Aber eine jener Anekdoten meiner Jugendzeit, an die ich immer wieder denken muss. So wie jetzt gerade. 

In der “Fan-Arena” angekommen, stürzten wir uns ins schwarzrotgoldene Getümmel. Unter dem Fahnenmeer feierten mehr Menschen als unsere Kleinstadt Einwohner hatte, noch vor dem Anpfiff sprachen wir fremde Mädchen an. Manche davon besuchten wir später auch zu Hause. Ein Videowürfel mitten im Main zeigte das, weswegen wir vordergründig hier waren: Fußball. Doch eigentlich, da waren wir des Feierns wegen hier. Das Spiel? Nebensache. Der Sieg? Selbstverständlich. Siegesrausch, noch eine Runde Bindig Pils aus Plastikbechern. Nach Hause? Keine Option, stattdessen hieß es Weiterfeiern auf dem Römerberg. Irgendjemand “lieh” sich einen Einkaufswagen von einem Supermarkt, wir fuhren Rennen damit, kletterten auf Ampeln. Narrenfreiheit unter dem Deckmantel des Fußballs, “Schlaaaand-Deutschlaaaand!”, Mädchen schmierten Nationalfarben in unsere Gesichter.

Ich fühle Wehmut in mir aufsteigen, als mich laute Rufe aus meinen Erinnerungen reißen. “AUF JETZT!!!” brüllt jemand da vorne, ich hebe kurz den Kopf. Die Partie geht weiter, die zweite Halbzeit bricht an. Immer noch Null zu Null, immer noch spüre ich die Hitze im Gesicht. Ich schmunzele kurz über meine Erinnerungen. Ist der Mensch nicht dazu geneigt, Vergangenes zu verklären? Fühlten sich die Freibadbesuche in den Sommerferien in der Erinnerung nicht auch weitaus unbeschwerter an, als sie es tatsächlich waren?

Heute keine Autokorsos

Gomez kommt, Khedira geht. Ich bleibe noch hier, lasse meinen Kopf auf den heißen Asphalt sinken. Ich döse weiter, der Duft von Cannabis steigt in meine Nase. In Frankfurt ist man da ja recht tolerant. Alles gut, zumindest hier – im fernen Russland jedoch kämpft die Nationalmannschaft nunmehr spürbar gegen ein Aus in der Vorrunde an. Wie lange es dann wohl dauern würde, bis die wenigen Deutschlandflaggen im Nordend für zumindest zwei Jahre lang eingerollt würden? Das Mädchen auf der Himbeer-Decke unterhält sich mit einer Freundin über ihr Studium, der Schiri gibt Eckball. Der Feierabendverkehr fällt dünner aus als sonst, dennoch reißen die Motorengeräusche nicht ab. Der Sonne ist’s egal.

Als ich die Augen wieder öffne, ist ein Tor gefallen. Nicht für Deutschland, für Südkorea. Ich richte mich auf, nehme einen großen Schluck aus meiner Colaflasche. Nein, ich möchte nicht noch einmal achtzehn sein. Ja, ich bin froh, dass Frankfurt längst mein Alltag statt nur promillelastiges Abenteuer ist. Nichts gegen Abenteuer. Noch während der Abpfiff das Ende des Turniers für die Nationalmannschaft besiegelt, schlurfe ich zu meinem Fahrrad. Ich bin verabredet und muss weiter ins Europaviertel.

Autokorsos wird es heute keine geben. Als ich in die Pedale trete und die Friedberger Landstraße hinab fahre, klingele ich einmal. 

 

Neue Ausstellung: Ein wohltuend nüchterner Blick auf das Auf und Ab des Bahnhofsviertels

Eigentlich, da bin ich ja “durch” mit dem Bahnhofsviertel.

Ja, ja: Ein Sündenpfuhl und hartes Pflaster, ein halber Quadratkilometer voller Leid, Schmutz und Elend. Dubiose Geschäfte und käufliche Liebe hinter schmucken Altbaufassaden. No-go-Area und von der New York Times “als Place to be gepriesen“, Hipster hängen in coolen Bars mit bunten Stühlen herum, während nebenan Junkies im Dreck und Dealer auf der Lauer liegen. Der Frankfurter Weg, eine überforderte Polizei im Schatten der Wolkenkratzer. Tabak-, Schuh- und Musikgeschäfte als die Letzten ihrer Art, der Einzelhandel stirbt auch hier. Gentrifizierung, BAO, die offene Drogenszene. Crack ist das neue Heroin und das Viertel der heiße Scheiß, dann und wann sorgt ein Künstlerkollektiv für Furore.

Frischer Fisch bei “Alim”, kaltes Bier bei “Yok-Yok”, ein Kiosk wird zum Kult. Ulrich Mattner mittendrin, Glücksspiel und benutzte Spritzen in den Straßen mit den Flussnamen. Einmal im Jahr die Bahnhofsviertelnacht, man schlemmt sich um die Welt, ja, das Viertel ist nicht nur multikrimi-, sondern seit jeher auch multikulturell. Bänker machen Mittagspause auf dem Kaisermarkt und Männer mit Kehrmaschinen und Hochdruckreinigern dem Dreck der letzten Nacht den Garaus.
Popup-Stores ploppen auf und lautlos wieder zu, die Dachterrasse eines “24 hours”-Hotels lädt zum Tanz, laute Musik übertönt das Blaulicht in der Straßenschlucht. Absteigen mutieren zu Kult-Kneipen oder müssen schließen, Bars von Weltniveau kredenzen Moscow Mule.

 


Erkennen Sie`s? Kaum wieder zu erkennen ist der Bahnhofsvorplatz auf einer der ausgestellten Bilder des Instituts für Stadtgeschichte. 

Ausgepresst und Ausgequetscht

Das Bahnhofsviertel, es ist berüchtigt und hipp, ist verschrien und geliebt, ist arm und reich, ein makabres Schauspiel und marodes Tor zur Stadt. Ist grausam, ehrlich, liebenswürdig, ist spannend, unstetig, gefährlich. In graue Tristesse gehüllt und trotzdem bunt. Das Bahnhofsviertel, es ist Alles und Nichts, vor allem aber ist es: Totgeschrieben, ausgequetscht, immer für einen reißerischen Aufmacher gut gewesen. Bis zum Erbrechen diskutiert, als Politikum missbraucht in Wahlkampfzeiten, hat es polarisiert und mich irgendwann gelangweilt, hat gelegentlich sogar vergessen lassen, dass Frankfurt noch so viel mehr ist.

Nein, ich konnte und wollte irgendwann nichts mehr lesen über den zwischenzeitlich zum “BHFSVRTL” hochstilisierten Stadtteil, nicht auf Blogs, nicht in der Zeitung, nicht sonstwo. Wollte nicht meine heile Welt, doch zumindest bitte meine Ruhe.

Dass ich nun dennoch noch ein (allerletztes, versprochen!) Mal einreihe in all die Berichterstattung über das Viertel, hat einen ganz bestimmten Grund:

 

24 Rückblick – nüchtern, sachlich, überfällig

Die Ausstellung “Banker, Bordelle und Boheme” des Instituts für Stadtgeschichte. Diese ist noch noch bis zum 7. April 2019 im Ausstellungssaal des Karmeliterklosters zu bewundern, welches ohnehin jederzeit einen Besuch wert ist. An einem grauen Sonntagnachmittag hatte ich mich jüngst dazu hinreißen lassen, der Ausstellung einen Besuch abzustatten. Bereut habe ich es nicht – was nicht allein an meiner nette Begleitung lag! Vielmehr vor allem daran, dass die Ausstellung einen längst überfälligen, wohltuend nüchternen Blick auf die wechselhafte Geschichte des verruchten Viertels wirft. Gänzlich frei von wildgewordenen Emotionen, von Verteufelungen und den ewigen Hype wird Aufstieg und Fall des einstigen Nobelviertels beleuchtet.

Dabei wird der Wandel des Viertels auf 24 Stationen nachgezeichnet. Historische Fotografien des Instituts für Stadtgeschichte und Leihgaben anderer Fotografen machen Menschen wie mich glücklich, welche “Früher und Jetzt”-Vergleiche lieben.
Exponate in Schaukästen runden die Ausstellung ab – vom Fuchspelz als Zeugnis des einst florierenden Pelzhandels bis hin zur “Stadtkarte für Freier” samt “Leichte Mädchen-Testberichte” in Buchform. Letztere Gegenstände wirken aus heutiger Zeit betrachtet schlicht widerlich und machen die Errungenschaften von Aufklärung und Emanzipation deutlich – während sie gleichzeitig mahnen, diese zu schützen und bewahren.


Makaber: “Stadtkarte für Freier”
(Foto: Institut für Stadtgeschichte) 

Für mich besonders aufregend war es, die prächtigen Bauten zu betrachten, welche im Krieg zu schaden kamen und nie wieder aufgebaut wurden. Wie prunkvoll das Viertel doch einmal anzuschauen war!

 

Tröstliche Erkenntnisse: Weil früher auch nicht alles besser war

Erfreulich auch, dass die politischen Ansätze im Umgang mit der das Viertel seit Jahrzehnten begleitenden Drogenproblematik aufgearbeitet wird. Nach einer Stunde atme ich frische Luft im Kreuzgang des Klosters. In mir macht sich die Erkenntnis breit, dass früher nicht immer alles besser war. Dass aber auch nichts beständiger ist als der Wandel, der auch vor dem Bahnhofsviertel keinen Halt macht – und neben Problemen jedoch auch Hoffnung schafft.


Prunkvolle Zeiten: Ob sie je zurückkehren? (Foto: Institut für Stadtgeschichte) 

 

Was übrig bleibt, ist eine Frage: Quo Vadis, Bahnhofsviertel?

Banker, Bordelle und Boheme 
zu sehen im Karmeliterkloster 
noch bis zum 7. April 2019

Demnächst in Bornheim: Einlochen im Neonlicht

Dieser Text handelt vom steten “Auf & Zu” der Berger Straße und vom Minigolf. Habt ihr etwa anderes erwartet? Ich jedenfalls darf mich nun hoffentlich über nie zuvor gekannte Höhenflüge hinsichtlich der Viralität meiner Artikel freuen – und mit dem Gedanken spielen, mich als Schöpfer reißerischer Aufmachungen bei einer großen Tageszeitung mit vier Buchstaben zu bewerben.

Spaß beiseite:
Neulich verrichtete ich nach getanem Dienst einmal wieder einen Spaziergang auf der, nun ja, Flaniermeile Berger Straße – oder eben dem, was von ihr übrig ist. Kaum hatte ich die “Berger” mal einige Zeit lang nicht mit wachen Augen passiert, schon hatte sich wieder einmal was getan:

Auf ewig geschlossen

Zwischenzeitlich hatte nämlich nicht nur “Diana’s Baggi” unweit des Fünffingerplatzes auf ewig geschlossen (schade drum!), sondern auch das Bekleidungsgeschäft “Jeans Tower”, welches ich schon kannte, seitdem ich in Frankfurt leben. Auch das Friseurstudio nebenan hatte es dem Klamottenladen gleichgetan und ward gewichen. Dass sich auch das “Wiesenlust” in einen vietnamesischen Imbiss verwandelt hatte, war da allenfalls noch Randnotiz. Nun ja, besser als die nächste Burgerbraterei. 

Schnell erreichten düstere Vorahnungen meine Frankfurter Seele: Sollten auch meine Enkelkinder noch vor verlassenen Geschäftsräumen stehen? Oder, schlimmer noch: Sollte nun das Überangebot an Sportwetten weiter ausgebaut werden? Würde man noch günstiger noch weltweiter telefonieren können?

Ich atmete auf, als ich auf den Schaufenstern von “Jeans Tower” sowie dem ehemaligen Friseursalon ein neonfarbenes Plakat erspähte. Bunt war gut, besser jedenfalls als all die Horrorszenarien, die sich bereits in meinem Kopf abspielten.

 

“Demnächst hier: Das erste Schwarzlicht-Minigolf der Stadt”

Jawoll, Minigolf. Ihr wisst schon, der leicht angestaubte Lieblingsfreizeitsport des Nachkriegsdeutschen ohne Handicap. Ich jedenfalls oute mich an dieser Stelle als echten Fan des Minaturgolfes. Dass mit dem Wegfall der (zugegebenermaßen recht unsäglichen) Zeilgalerie auch das einzige Indoor-Minigolf der Stadt verschwand, ließ mich bislang bei schlechtem Wetter recht blöde aus der Wäsche schauen. Doch als ich, neugierig wie ich war, vor dem neonfarbenen Plakat stand, da flammte Hoffnung in mir auf…

Schwarzlichtminigolf?!

Allzu schnell wurde diese allerdings überschattet von einer naheliegenden Frage: Was zum Henker sollte Schwarzlicht-Minigolf sein? Die “Schwarzlichthelden” zeichneten sich laut Plakat für das Unterfangen verantwortlich. Zeit also für ein wenig der Recherche – und für Antworten.

Ich mache Tim Schieferstein ausfindig, den Marketing-Chef der “Schwarzlichthelden”, einem Mainzer Unternehmen. Und der klärt mich erstmal auf. Schwarzlichtminigolf, das sei klassischer Minigolf, erweitert um “einzigartige Bahnen mit spektakulären Hindernissen, welche unter Schwarzlicht in bunten Farben leuchten”.

Das klingt schon mal recht spannend. Doch Schieferstein weiß weiter zu überraschen: Mittels spezieller 3D-Brillen, so klärt er mich auf, seien 3D-Effekte sichtbar, welche “das außergewöhnliche Spielerlebnis perfekt machten”. Oha!

Eine Hommage an die hessische Metropole

Im Laufe unserer Unterredung wusste Schieferstein gar noch einen draufzulegen: Die Kulisse der Minigolf-Anlage der besonderen Art würden nämlich Graffiti-Bilder bilden, welche Motive unserer Stadt darstellten. Dass die Standortwahl ausgerechnet auf Frankfurt fiel, begründet Schieferstein wie folgt: “Viele unserer Gäste in Mainz kamen eigens aus Frankfurt angereist. Es war an der Zeit, die Frankfurter aus ihrer Langeweile zu befreien!”

Nun kann ich nur bedingt behaupten, jeweils unter Langeweile zu leiden. Dennoch freue ich mich auf das Minigolf der besonderen Art. Und noch mehr freue ich mich darüber, dass die Berger Straße um eine Location bereichert wird, in der man weder essen noch internationale Telefongespräche führen kann. Ich bin mir sicher, schon bald nach Eröffnung den Schläger unterm Schwarzlicht schwingen zu wollen!

Noch ein bisschen was zu tun

Bis es soweit ist, wird allerdings noch ein wenig Wasser den Main hinunterfließen. Zwar spricht Schieferstein von einer “Eröffnung nach den Sommerferien”, ein Blick durch die Glasfassaden offenbart allerdings noch einigen Bau- und Arbeitsbedarf.

So oder so – ich freu’ mich auf das neue Vergnügen auf “der Berger”. Ihr genauso?

“Frankfurt, Schwarz & Weiß” – Die Geschichte hinter der Ausstellung

Welche waren eigentlich eure Vorsätze fürs neue Jahr?
Ich persönlich mag ja Zigaretten und Apfelwein viel zu gerne, sodass für mich letztendlich Jahr für Jahr nur einer davon bleibt: Möglichst viele Dinge zum ersten Mal zu tun.

Nun scheint es, als hätte ich meiner alljährlichen Absichtserklärung tatsächlich Taten folgen lassen: Zwischen dem 1. Juni und dem 15.Juli verwandelt sich das großartige Café Sugar Mama nämlich zur Galerie meiner ersten eigenen Foto-Ausstellung “Frankfurt Schwarz & Weiß”. Sechs Wochen lang darf ich hier meine Werke auf Leinwand ausstellen, welche im Laufe der letzten Jahre bei meinen Streifzügen durch meine Heimatstadt entstanden sind. Festgehalten auf Negativstreifen und bislang nur in meinen Alben zu bewundern, werden sich die Motive nun dem kritischen Blick der breiten Öffentlichkeit stellen.

 

Doch wie kam es eigentlich dazu? Dies ist die Geschichte hinter  “Frankfurt Schwarz & Weiß”

Die kleine Macke als großer Antrieb

Wer mich kennt, der weiß: Es fuchst mich, wenn Andere irgendetwas können und erreichen, .das ich mir bislang noch nicht auf die Fahnen schreiben konnte.
Ja, oft bewundere ich andere Menschen für ihr Schaffen und bin zuweilen sogar neidisch. “Was die können, will ich auch können!” ist ein von mir oft gedachter Gedanke – und ist letztendlich Quell meines Treibens. Dieser Charakterzug ist es, der mich bisweilen sogar gelegentlich zu Gitarre und Mikrofon greifen lässt- obwohl ich nun wahrlich nicht sonderlich musikalisch bin. Nein, eine Krähe ist kein Singvogel! 

Nun saß ich vor einiger Zeit in meinem Lieblings- und Stammcafé, in dem mehrmals im Jahr Ausstellungen stattfinden. Ich weiß nicht mehr, ob ich Zeitung gelesen habe oder geschrieben habe, als mein Blick auf eines der ausgestellten Bilder fiel. Gut aber erinnere ich mich daran, wie sich ein mir wohlbekanntes Gefühl in mir breit machte. Gefühlt, gedacht, gemacht: Ich verfasste eine Bewerbung um eine eigene Ausstellung und fügte ein paar meiner analogen Schwarzweißbilder bei. Die waren ja schon damals mein Steckenpferd – seit meinem Projekt “36 Lieblingsorte” war eine analoge Kleinbildkamera steter Begleiter auf all meinen Streifzügen durch meine Heimatstadt.

Niemals hatte ich mir die Chance für eine Zusage ausgemalt. Doch diese erreichte mich nur wenig später – für den Herbst 2019. Bis dahin (wir schrieben November 2017) sollten noch zwei Jahre vergehen und noch eine Menge Wasser den Main hinunterfließen. Mir kam es gelegen, konnte ich mich doch über die Zusage freuen, mich geehrt fühlen – und das “Projekt Ausstellung” guten Gewissens in die Schublade “Brauche-ich-mir-noch-lange-keine-Gedanken-darüber-zu-machen” verfrachten. Das Leben zog weiter, es wurde Weihnachten, heißer Apfelwein versüßte die Feiertage, auf einer Straßenkreuzung im Stadtteil Bockenheim begrüßte ich das neue Jahr.

Listen, Listen, Listen: Von der Organisation einer Ausstellung

Es war im Januar, ich verfluchte die Stadt für die Kälte und den Schneematsch unter meinen Schuhen, der sich hässliche Pfützen im Flur meiner Wohnung ausbleiben ließ. Immerhin, die grauen Tage vertrieb ich mir neuerdings mit dem Schreiben von Texten für ein Nachrichtenmagazin, für das ich seit dem Jahreswechsel arbeitete. Dennoch verfluchte ich auch den Umstand, dass auch im neuen Jahr alles so vor sich hinplätscherte, wie es auch im Dezember noch geplätschert war. Nun, zumindest bis ich auf die E-Mail klickte, die mich von der Besitzerin meines Lieblings-Cafés erreicht hatte. Eine Künstlerin sei abgesprungen, las ich da, nun sei ab ersten Juni eine sechswöchige Lücke im Ausstellungs-Kalender entstanden. Ob ich nicht einspringen wolle?

Klar wollte ich. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, auf welch Mammut-Aufgabe ich mich damit einlassen würde.Schnell stand ich also vor der Frage, wie man doch gleich eine Foto-Ausstellung organisierte. Und wie immer, wenn es um das “irgendwie Organisieren” geht, hab’ ich erstmal eine To-Do-Liste angefertigt. Ohne Listen, da ging im Leben sowieso nichts, und Listen, die mache ich mir bekanntlich selbst für Listen.

Von der Auswahl der Bilder über die Produktion der Leinwände und die Gestaltung der Hängung, vom Exposé bis hin zum Bekanntmachen der Ausstellung und der Konzeption der Vernissage – es gab, soviel war klar, viel zu tun. Womit also anfangen? Ein schmucker Titel jedenfalls war schnell gefunden – “Frankfurt Schwarz & Weiß” hatte mir als schlagkräftige Bezeichnung quasi aufgedrängt. Nun erschien es mir sinnvoll, eine Auswahl derjenigen Bilder zu treffen, die ich als ausreichend gelungen empfand, um sie einem geneigten Publikum zu präsentieren.

“Scheiße, sind das viele!” : Von der Qual der (Aus-)Wahl

Es ist mal wieder schon spätabends, als ich im Frankfurter Nordend eine Flasche Wein aufmache und stapelweise Fotoalben auf meinen Schreibtisch wuchte. Ich blättere mich durch jedes einzelne der Alben, entdecke immer wieder Bilder, an die ich mich schon längst nicht mehr erinnert hatte. Soviel stand fest: Es waren VIELE Bilder, stolze 700, um genau zu sein. Wie viele würde ich wohl benötigen? Sollte ich die Ausstellungsfläche mit vier gigantischen Großdrucken füllen, oder die Wände mit 300 kleinen Leinwänden tapezieren? Ich hatte keine Ahnung. Szenerie am Mainufer, Portrait des Opernbrunnens oder der Schnappschuss vom Wochenmarkt? Musste der Goetheturm nicht elementarer Bestandteil der Ausstellung sein? Wie viel Skyline vertrug meine Ausstellung? Durfte der Dom gleich zwei Mal vertreten sein? Sollte ich die Bilder, die in jeder anderen Stadt entstanden sein könnten, gleich aussortieren? Mag außer mir eigentlich sonst noch jemand U-Bahn-Bilder? Und sollten meine eigenen Favoriten auch die der Betrachter sein?

Ich hatte keine Ahnung. Ich trank viel Wein in dieser ersten Phase der Organisation, doch kam nicht weiter. Rettung nahte erst in Form einer bezaubernden Frankfurter Künstlerin: Isabel Lips. Wer mich kennt, weiß, wie ungern ich andere Menschen um Hilfe bitte – in meiner Verzweiflung aber sah ich keine andere Möglichkeit. Zwischenzeitlich war es mir zwar unter Tränen (ja, ich hänge sehr an einigen meiner Aufnahmen!) und unter Zuhilfenahme von einigem grünen Veltiner gelungen, aus den 700 Fotografien 180 Exemplare auszuwählen. Kein einziges davon aber, das war klar, würde ich noch aus eigener Kraft streichen können. Isabel Lips aber tröstete und traf mich, traf auch etwas für mich – eine Auswahl nämlich, eine von immer noch gut 70 Bildern. Diese empfand sie als amtliche Expertin am gelungensten und, wie sie mir versicherte, einer Ausstellung würdig. Beim Apfelwein in der Bockenheimer Wirtschaft “Zum Tannenbaum” erklärte sie mir den goldenen Schnitt ebenso wie den Ablauf einer Vernissage. Mit Engelsgeduld lehrte sie mich, dass Architektur Raum brauche, brachte mir die “Petersburger Hängung” näher. Neuland für mich, sicheres Terrain für Isa Lips – ich bin ihr auch heute noch unendlich dankbar für ihren Rat. Beim nachmittäglichen Kaffee im Café Sugar Mama bewahrte sie mich tapfer auch vor dem zwölften Nervenzusammenbruch, wenn die Wände immer größer und meine Zuversicht immer kleiner wurden. Irgendwann dann war es soweit: Die Auswahl der Bilder war getroffen, auf Zeichnungen war festgehalten, wie die einzelnen Wände in Szene gesetzt werden sollten. Dank Isa fühlte sich das Projekt “Ausstellung” zum ersten Mal machbar an. Zumindest vorübergehend.

Warum ich Puzzeln schon immer gehasst habe, oder: Von der Planung einer Hängung

Von diesem guten Gefühl war nichts mehr übrig, als ich mit einem Zollstock bewaffnet Gäste des Cafés aufscheuchte, weil ich “eben mal kurz die Wand vermessen müsse”. Ich hasste das Geodreieck, das noch aus meinen Schulzeiten stammte und das ich aus den Untiefen meiner Schreibtischschublade gezaubert hatte. Ich hasste das Karopapier, auf dem ich Rechtecke und Maßstäbe eintrug. Ich stellte mir die Frage nach dem Sinn des Ganzen fragte mich, warum ich im Staub herumkrabbelte, um die Mitte der großen Wand des Cafés zu bestimmen  – statt einfach irgendwo herumzusitzen und den Tag ‘nen schönen Tag sein zu lassen.

Doch will eine Hängung eben sorgfältig geplant sein. Erst, wenn sämtliche Formate bestimmt und angeordnet sind, konnte eine Bestellung der Leinwände erfolgen. Doch daran war noch längst nicht zu denken, an diesen Abenden, an denen ich vor maßstabsgetreuen Miniatur-Ausdrucken meiner Bilder sitze und diese immer wieder neu anordnete. Ja, ich wusste wieder, warum ich  das Puzzeln schon als Kind gehasst habe. Ja, ich trank eine Menge Wein in dieser Zeit.

Es dauerte Wochen, bis ich mich entschieden hatte, welches Bild welche Leinwandgröße verdient hatte. Dauerte nochmals Wochen, bis ich das Puzzle auf die für mich bestmöglichste Weise löste und auf die Skizze für die Hängung übertrug. Immerhin, nun waren Fakten geschaffen, eine weitere Hürde war genommen. Doch die nächste war mitnichten angenehmer.

 

Wie man richtig viel Geld ausgibt und es sich mit dem Paketboten verscherzt: Vom Bestellen von 58 Leinwanddrucken

Die nächste Sinnkrise erreichte mich, als ich mich durch die Kalkulationen von verschiedenen Druckunternehmen klicke. Ich hatte um Angebote für die Produktion von stolzen 58 Leinwanddrucken in unterschiedlichen Größen gebeten. Klar, das war ‘ne Menge Holz (bespannt mit Leinwand, haha!), dass ich aber eine SOLCHE SUMME würde bezahlen müssen, war mir in meiner Naivität gar nicht bewusst gewesen. Wieder einmal frage ich mich, warum ich mir das antue. Warum ich offensichtlich auf bestem Wege war, mich finanziell zu ruinieren – nur, weil ich diesen albernen Traum von einer eigenen Ausstellung träumte.

Doch einen Rückzieher konnte ich nun nicht mehr machen, einen solchen hätte ich mir nicht verziehen. Also: Augen zu und zahlen, notfalls würde ich eben meine Lebensversicherung kündigen und ins Gallus ziehen müssen. Dort waren die Mieten gerüchteweise noch vergleichsweise günstig.

Was ich leider nicht bedacht hatte: Fast jede der Leinwände sollte als separates Paket versendet werden. Fortan klingelte fast täglich der Paketbote. “Ich hab’ da mal wieder ein Paket für Sie!”, brüllte es zunehmend aggressiver durch die Gegensprechanlage. “Vierter Stock” – “ICH WEISS, HERR GRÜN!!”, ja, so treibt man unschuldige DHL-Angestellte in blinden Hass. Der Umstand, dass die Pakete teils sehr groß waren, trug in keinster Weise zur Entspannung unseres Verhältnisses bei – und führte zum nächsten Problem: Wohin mit all den Leinwänden? Zur Problemlösung sei nur soviel gesagt: Es ging beengt zu in meinem Wohnzimmer, in dem ich nach wie vor viel Wein trank. Die Beruhigung meiner Nerven tat schließlich Not, denn – wie konnte es auch anders sein – tauchten aus dem Nichts gerne mal einige weitere Probleme auf.

Die Gestaltung der Mappe für das Exposé sowie das Verfassen der Texte für die Aushänge ging mir noch recht einfach von der Hand, nachdem ich mich für ein passendes Papier entschieden und einige Stunden im Copyshop verbracht hatte. Quasi ganz nebenbei wurde ich zum Experten für die unterschiedlichsten Variationen der Spiralbindung. Schreib’ ich mir ganz sicher in den Lebenslauf!  Auch für die Kalkulation der Verkaufspreise machten sich die beiden Semester meines vorzeitig beendeten BWL-Studiums bezahlt. Neues Ungemacht drohte aber in Form von Post von der Druckerei: Für einige der Großdrucke, so las ich voll Entsetzen, sei die Auflösung der Negativ-Scans schlichtweg zu gering, ich möge doch bitte hochauflösendes Rohmaterial einsenden. An dieses gelangte ich nach einiger Recherche in einem Frankfurter Fotolabor. Dort erlangte ich außerdem die Erkenntnis, wie teuer so ein Hochleistungs-Scan sein kann. Aber Geld war mir zu diesem Zeitpunkt eh schon scheißegal.

Die beste Mama der Welt schwingt den Pinsel

Wenn schon ihrem Sohnemann eine Bühne für sein Schaffen zur Ehre geworden war, dann sollte auch die beste Mama der Welt ein wenig davon profitieren. Während der Sprössling lieber Auslöser betätigt, malt die Mama nämlich unglaublich gerne. Und ausgesprochen gut, wie ich finde!

Ein lieber Telefonanruf später: Mama sagt zu und ist fortan für Wochen damit beschäftigt, den Pinsel zu schwingen und ihren Beitrag für die Ausstellung zum Leben zu erwecken. Klar, schwarzweiß und Frankfurt, das war Vorgabe. Ansonsten aber galt: Alles war möglich! Bis zuletzt wusste ich selbst nicht, welches Motiv meine Mutter wohl auf Leinwand zaubern würde. Dass es am Ende eines wurde, zu dem ich eine ganz besonders persönliche Beziehung habe, freute mich nur umso mehr. Neugierig geworden? Ein Besuch der Ausstellung schafft Aufklärung!

Nägel zum Kilopreis & Social Media: Was sonst noch so geschah

Es reichte mir endgültig. Für Baumärkte hatte ich schon immer nichts als Verachtung übrig, und genau diese empfand ich, als ich verzweifelt versuchte, in Erfahrung zu bringen, wie viele Nägel wohl in einer Vierhundertgrammschachtel sind. Niemand vermochte mir diese Frage zu beantworten. Bis dato war ich der Meinung, allein in den Straßen des Bahnhofsviertels würde Ware in Gramm ausgepriesen, doch wunderte mich schon längst nichts mehr. Nahm ich halt gleich 800 Gramm, was sollte der Geiz, das sollte reichen. Doch brauchten die Nägel nun eine Nickel-Legierung oder nicht? Auch diese Frage blieb ungeklärt. Unklar auch, warum ein einziger Umzugskarton 3,90 Euro kosten musste. EIN STÜCK PAPPE!!!!

Doch irgendwie musste ich die Leinwände wohl irgendwie lagern und transportieren. Ich ließ noch ein halbes Vermögen für einen Hammer, der selbst im Sonderangebot noch zehn Euro kostete. Ein STÜCK HOLZ MIT METALL DRAN! Wo eh schon alles egal war, warf ich auch noch eine zweite Wasserwaage in den Einkaufswagen. Ich schwor mir hoch und heilig, nie wieder einen Beitrag zu betreten, bevor ich in die nächste Sinnkrise fiel.

Erst, als es galt, die liebe Welt da draußen über Vernissage und Ausstellung in Kenntnis zu setzen, fühlte ich mich wieder als Herr meines Handelns. Ich setzte auf Social Media, darin war ich ja geübt, erstellte Veranstaltungen auf Facebook, streute in Gruppen und auf Kanälen. Viralität war schließlich alles!

Zu meiner großen Freude konnte ich meinen lieben Freund und großartigen Musiker Michael Nickel dafür gewinnen, die für den ersten Juni geplante Vernissage um seine Piano-Musik zu bereichern. Michael, da war ich mir sicher, würde noch jeden Abend retten. Nur für mich versprach er, sich in den ICE zu setzen und mitsamt Klavier nach Frankfurt zu reisen. Schlecht für mein Gewissen, gut für meine Zuversicht. Seine Lieder würden jeden erbosten Bildbetrachter milde stimmen, da war ich mir sicher. Und außerdem, da freute ich mich saumäßig drüber, einen verdammt guten Freund mal wieder in die Arme schließen zu können. Aber bis es soweit war, galt es noch so einiges zu meistern.

Vom Hämmern und vom Nageln: Die tollsten Freunde der Welt werden aktiv

Noch hing nämlich kein einziges Bild an der Wand. Stattdessen war ich kurz davor, MICH aufzuhängen – an einem Strick nämlich, denn ich hatte ein gewaltiges Problem. Der erste Juni stand kurz bevor, quasi ganz nebenbei musste ich noch meinem Beruf nachgehen – und in meinem Wohnzimmer stapelten sich noch immer die Leinwände. Mein Zeitplan war auf Kante genäht, drei Tage vor der Vernissage mussten unbedingt die Kartons samt Werkzeug ins Café gelangen.

Ziemlich blöde nur, dass ich statt Kisten zu schleppen nun in sintflutartigem Regen versuchte, einem schweren Unwetter in Niedersachsen zu trotzen. Der Zugverkehr in Richtung Süden war über Stunden hinweg eingestellt – ich sollte Frankfurt an diesem Abend nicht mehr sehen. “GAME OVER”, dachte ich mir, “das war’s dann wohl”. Aus der Traum von der eigenen Ausstellung, ich würde mir die Blöße geben müssen, sie samt Vernissage abzusagen. Warum nur musste ich mich immer auf solche Spinnereien einlassen, warum nur mir ständig Stress bereiten? Warum konnte ich nicht einfach mal “mein Leben chillen”, mal kein “Projekt haben”, mal nicht irgendwelche dummen Träume haben? Im nächsten Leben, das schwor ich mir, würde ich von 9 bis 17 Uhr im Büro sitzen und abends Netflix schauen. Am Wochenende würde ich bei meiner Tante Kuchen essen, nur sonntags nach 22 Uhr zu Bett gehen. Denn dann liefe ja der Tatort.

Zurück in dieses Leben, ich hatte eine schlaflose Nacht gehabt, hatte geheult vor Überforderung – und versuchte in meiner Verzweiflung, mir Hilfe zu holen. Dies widerstrebte mir zwar noch immer, doch sah ich keine andere Möglichkeit, die Ausstellung doch noch irgendwie zu retten. Und siehe da: Am zweitletzten Abend vor der Vernissage standen die tollsten Freunde der Welt vor meiner Haustür und wuchteten kistenweise Bilder in den Bus der Linie 30.

Kaum im Café angekommen, erlitt ich den nächsten Beinahe-Zusammenbruch. Zwar hatte ich Hämmer, Wasserwaage, eine Menge Skizzen und achthundert Gramm Nägel (ohne Legierung!), doch war ich seit jeher unfähig, auch nur ein Bild unfallfrei an eine Wand zu hängen. Das Bewusstsein um über 400 “Interessiert”-Klicks auf Facebook und die Tatsache, dass der Termin noch in der morgigen Tageszeitung erscheinen würde, ließen mich einen gewissen Erwartungsdruck verspüren, dem ich nicht mehr gerecht werden zu können glaubte.

Nachdem ich den tollsten Freunden der Welt mit Hilfe meiner geodreiecksgefertigten Skizzen die gewünschte Hängung der Bilder veranschaulicht hatte, war ich mir sicher, dass ich mir alle Mühen hätte sparen können. Die Wände des Cafés erschienen größer denn je, die Stapel der Leinwanddrucke drohte die Decke zu durchbrechen, uns blieben nur vier Stunden, um die Ausstellung entstehen zu lassen. Immerhin wurden wir von der bezaubernden Roberta mit Kuchen versorgt. Ich sehnte mich nach Wein, beschloss aber einen klaren Kopf zu bewahren und rauchte nervös Zigaretten, während ich Anweisungen erteilte und die tollsten Freunde der Welt sich im Umgang mit den Hämmern als erstaunlich treffsicher erwiesen.

Die bereits erwähnte zauberhafte Isabel Lips hatte “mal auf die schnelle” ein paar Skizzen für ein Wandgemälde gefertigt, von denen ich mir eine aussuchen durfte (auch hier fiel die Wahl schwer!), die sie anschließend in einer mir unbegreiflichen Geschwindigkeit auf eine nackte Wand pinselte. Hey Isa, ich bewundere dich für dein Talent!

Kurz nach Mitternacht geschah dann das Unmögliche: “Das war’s!”, rief jemand, das letzte Bild hing an der Wand. Noch immer habe ich nicht den Hauch einer Ahnung, wie die tollsten Freunde der Welt innerhalb von vier Stunden “meine” Ausstellung erschaffen haben und 58 Bilder fein säuberlich angeordnet und meinen Vorgaben entsprechend an die Wand genagelt haben. Als “Chef” des Projekts führte ich noch einige Kontroll-Messungen mithilfe der Wasserwaage durch, ließ hier und dort ein “den rechten Nagel einen halben Zentimeter weiter hoch!” vernehmen.

Danach stand endgültig fest, dass meine Kinder zu Ehren der tollsten Freunde der Welt auf die Namen Sabrina, Nadine, Boris, Antonius und Jennifer getauft werden. Ja, notfalls würden auch Töchter Boris heißen müssen. Fix und alle fiel ich in tiefen Schlaf. Der Tag der Vernissage konnte kommen.

 

 

Wunderbare Gäste: Wie die Sinnfrage geklärt wurde

Es war soweit: Wir schrieben den 1. Juni, heute war der große Tag, war die Vernissage meiner ersten eigenen Ausstellung. Es war kurz nach sechs am Abend, schnell noch mal ins Bad, noch schnell ein paar warme Worte aufs Papier gebracht. Irgendetwas sagen, das musste und wollte ich schließlich, auch wenn das Publikum allein aus meinem Freund Michael bestehen sollte.

Dieser war es auch, der bestimmt hatte, dass die Vernissage um exakt 19.19 beginnen sollte, damals in Berlin, als wir uns über seinen Auftritt unterhielten, welcher nun kurz bevorstand.

Wie es sich an Freitagabenden eben für gewöhnlich so verhält, waren jedoch außer den besten Theken-Mädels der Welt und meinem lieben Freund Michael noch kaum andere Menschen anwesend. Doch nachdem sich bislang alles irgendwie zum Guten gewendet hatte, war ich mir sicher, dass sich dies in der kommenden Stunde ändern würde.Und so war es. Nicht nur, dass ich endlich einmal wieder mein Schwesterherz in die Arme schließen konnte – immer wieder durfte ich Menschen begrüßen, mit deren Erscheinen ich doch eigentlich niemals gerechnet hätte.

Am Ende stand ich neben Michael, der sich bereits am Piano in Position gebracht hatte. Blickte in unzählige Gesichter ganz wunderbarer Menschen. Wunderbarer Menschen, die alle ihre Rolle in meinem Leben gespielt hatten oder spielten, vom ersten Mitbewohner bis hin zur Kneipenbekanntschaft, die ich zuvor noch nie im Hellen gesehen hatte – saßen wir uns doch bislang stets schweigend mit einem Buch vor der Nase nebeneinander am Tresen. Und war das dort hinten nicht der Organisator einer Filmreihe, über die ich einmal berichtet hatte? Und nahezu sämtliche Kollegen meiner hochgeschätzten Agentur sagten auch “Hallo”! Doch auch und insbesondere die Gesichter derjenigen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, erfüllten mich mit Freude. Sie wussten nicht, was sie erwartete – und dennoch hatten sie sich die Zeit genommen, meine Ausstellung anzuschauen. An einem Freitagabend! Einen schöneren Ausdruck der Wertschätzung hätte ich mir kaum erträumen können.

Das Exposé drehte bereits seine Runden, Kugelschreiber schrieben erste Käufernamen auf Karton. Ich bin gerührt, fange an zu sprechen, stelle fest, dass ich mir meine Notizen hätte sparen können. Alles fühlte sich gut und richtig an. Ja, es war okay für mich, dass ich ausnahmsweise mal ein Projekt nicht ganz alleine gestemmt hatte – sondern auf die Hilfe der tollsten Freunde der Welt angewiesen war.

Als Michael in die Tasten greift und mit seinem Stück “Schneeflockentanz” den Abend einleitetet, ich in die Gesichter all der Menschen der Menschen blicke, die mir so viel bedeuten – als ich mich auf dem Boden niederlasse und Michaels Piano versehentlich den Stecker ziehe und für Erheiterung sorge – da wusste ich wieder, warum ich mir allen Stress und Zweifel der letzten Monate angetan hatte.

Warum ich dies hier tat, warum ich mich im Zweifel sogar zielsicher in den Bankrott stürzen würde, weil ich nicht anders konnte:

Weil mein Herz es so wollte – und einmal mehr über meinen Verstand gesiegt hatte.

Neugierig geworden? “Frankfurt, Schwarz & Weiß” ist noch bis zum 15. Juli 2018 im Café Sugar Mama, Kurt-Schumacher-Straße 2, zu bewundern. 

Warum ich hier bin.

„Und? Warum genau bist du hier?“

Ich neige meinen Kopf zur Seite und blicke in das schöne Gesicht der Frau, die – ohne es geahnt haben zu können – meine Gedanken ausgesprochen hat.

Ich stehe vor dem kleinen Fenster des Raucherraums, bis eben noch starrte ich hinaus auf die Tanzfläche des Kellerclubs. Züge an der Gauloises. Nicht, dass man hier drinnen eine Zigarette anzünden müsste, um zu rauchen. Schlichtes Einatmen reichte vollkommen, doch die Gewohnheit hatte gesiegt.

Bis eben waren wir zu zweit, mein Bekannter und ich, beide mit Apfelwein in der Hand und Zigarette im Mundwinkel. Ganz sicher ließ sich unser Miteinander auch einmal etikettieren, doch war das Band unserer Freundschaft längst zerschnitten worden von der Klinge des Banalen. Nicht, dass wir es jemals böse miteinander gemeint hatten, nicht, dass wir uns je gestritten hätten.Doch schien die Vorliebe für laute Musik und Apfelwein allein auf Dauer nicht ausreichend für eine Freundschaft, und so waren wir eben schleichend in stiller Übereinkunft Bekannte geworden.

So stehen wir also hier, an diesem Samstagabend, in diesem stickigen Raucherzimmer mit dem Tischkicker – und haben uns außer “Prost” nicht viel zu sagen. Doch seit eben leistet uns diese fremde Frau Gesellschaft, und allein des Anstands halber sollte ich nun nicht länger schweigen. Denn immer noch blickt sie mich mit aufrichtiger Neugierde an und wartet auf eine Antwort.

 

Frankfurt lädt zum Tanz

“Weil ich nichts besseres mit meiner Zeit anzufangen weiß”, versuche ich es erst einmal im Scherz. Sie lacht, immerhin. “Echt jetzt?”

Tja, was sie wohl denken würde, wüsste sie, wie viel Wahrheit doch in meiner als kleiner Scherz getarnten Antwort steckte? “Na denn, zum Wohl!” sagt sie, Apfelweinglas stößt auf Bierkrug. Klock. “Aber mal im Ernst…”, ich erzähle irgendetwas von einem Kumpel, den ich lange nicht mehr gesehen habe und mit dem ich einmal wieder feiern gehen wollte.

Noch eine Zeit lang stehen wir schweigend nebeneinander, mein Bekannter, ich, und die unbekannte Dritte mit dem schönen Gesicht. Wir starren aus dem Fenster und sehen die sich im bunten Licht bewegenden Silhouetten, Bässe treffen auf Trommelfelle, Frankfurt lädt zum Tanz.

Gern hätte ich der Unbekannten die ganze Wahrheit erzählt, hatten sich meine Synapsen doch bereits auf die Suche einer Antwort auf ihre Frage aller Fragen begeben. Gern hätte ich ihr gestanden, dass ich selbst nicht genau weiß, warum ich eigentlich hier bin. Doch ist und bleibt die junge Frau eben Fremde, auch wenn sie immer noch lächelt, sogar während sie noch einen Schluck Bier nimmt.

Ich tue es ihr gleich, wer trinkt, der muss nicht reden, noch eine Zigarette anstecken, “hast du Feuer für mich?” – “na klar”. Ich werde nachdenklich, setze dabei selbst ein Grinsen auf. Ein Lächeln ist immer noch die beste Tarnung, diese Lektion hatte ich früh gelernt.

Kein Morgen mehr… oder doch?

Ja, vielleicht bin ich einfach nur hier, weil Samstagabend ist, weil ich ausnahmsweise frei habe, an diesem “Tage aller Tage”. Vielleicht, weil mich eine süße Erinnerung an durchtanzte Nächte hierher gelockt hat, weil ich nicht vergessen habe, wie auch ich einmal den Rausch genießen konnte. Vielleicht aber auch ganz einfach, weil ich nichts verpassen wollte. Es war ja schließlich Samstagabend.

“Also ich bin hier”, setzt meine Nebenfrau zur Erklärung an und reißt mich aus meinen Gedanken, “weil eine Freundin heute hier Geburtstag feiert”. Normalerweise sei das “nicht so ihr Laden”, sagt sie – und deutet ironisch mit dem Kopf schüttelnd auf die Tanzfläche, auf der einige gemeinsam, die meisten aber nur für sich selbst tanzen.

Ich würde lügen, würde ich behaupten, ich würde nicht gern tauschen wollen, mit all den verschwitzten Menschen da draußen vor der Scheibe. Gern würde ich so tanzen wie sie es taten, als ob es kein Morgen gäbe, niemals, als befände sich die Welt tatsächlich einmal nur hier und nur jetzt.

Allein: Ich kann es nicht. Nicht mehr, ich weiß es nicht. Ich vermag mich nur dunkel an das Gefühl erinnern, das ich noch spüren konnte, als auch einmal nichts weiter tat als inmitten einer fremden Menschenmenge zur Musik zu tanzen. An die Euphorie, die mich durchströmte, als ich mich inmitten einer fremden Menschenmenge zur Musik bewegte, bis es hell war. Bis ich nicht nur die Zeit, sondern auch alles vergessen hatte.

Vergessen wollen und vergessen sollen

Vergessen, nein, das kann ich längst nicht mehr. Und will es auch nicht, glaube ich. Welch Leben führte ich, würde ich es stets pünktlich zum Wochenende vergessen wollen?

Nein, deswegen bin ich ganz sicher nicht hier. Ich fühlte mich bis eben recht wohl in meiner Rolle des stillen Beobachters, doch nun fühle ich mich von den zwei dunklen Augen merkwürdig ertappt.

Ja, ich erinnere mich nur allzu gut an all die Verheißungen der Nacht, an das aufregende Gefühl, nicht zu wissen, wie und wo ein Abend enden wird. Doch ebenso gut erinnere ich mich an den Kater am Tag danach, an die nüchterne Erkenntnis, dass auch über die wildeste Nacht der Alltag zuverlässig und gnadenlos hereinbricht. Die Welt, auf die ich durch das kleine Fenster blicken kann, das weiß ich, ist eine Scheinwelt.

Was also mache ich hier? Ja, ich würde dieser Scheinwelt noch immer gern erliegen können, würde den Augenblick noch immer gern beschränken können, einzig auf Bewegung und Musik. Doch stünde ich nun auf der anderen Seite des kleinen Fensters, käme ich mir fehl am Platze. Tanzen würde vor allem mein schlechtes Gewissen, und zwar weit mehr als Tango.

Ich weiß genau, wie ich den morgigen Tag verbringen würde, ich weiß genau, während welch Sonnenstunden ich im Bett liegen würde, weiß, dass auch die längste aller Nächte die Sorgen aus dem Gestern hinein ins Morgen katapultiert. Zwar ist die Nacht verlockend, doch der Tag ist ehrlich.

 

So ist das wohl mit dem Älterwerden

Vielleicht bin ich tatsächlich allein aus einer Angst vor dem Verpassen hier. Vielleicht, weil sich in mir noch immer jene Sehnsucht verbirgt, die mich mahnt, bloß nichts zu verpassen: Die Unbekümmertheit, die kurzen, verschwitzten Berührungen, die U-Bahn am Sonntagmorgen. Das Bier am Kiosk, weil die nächste Bahn erst in einer halben Stunde kommt. Vielleicht ist das hier ein Versuch, Geschichten zu wiederholen.

Mit den unscharfen Bildern dieser Geschichten im Kopf leere ich mein Glas. Es wird das Letzte sein für heute, das weiß ich. Denn das schwerelose Gefühl der Unbekümmertheit würde sich auch nach fünf weiteren nicht mehr einstellen. So ist das wohl mit dem Älterwerden.

Männer brüllen hinter uns am Tischkicker, der längst mehr Abstellplatz für Bierflaschen denn Sportgerät ist. “Bis neulich bin ich noch durch Asien gereist”, verrät mir meine nächtliche Bekanntschaft. “Und dann kam wieder Frankfurt”.
Ich glaube zu ahnen, wie sich bei ihrer Wiederankunft gefühlt haben muss.

Nein, ich empfinde mich nach wie vor nicht als Spaßbremse. Nur empfinde ich mittlerweile an anderen Dingen Freude. Ich weiß nicht genau, ob ich das bedauern soll. Für diese Dinge muss ich nicht einmal um die halbe Welt reisen – bekanntlich fühle ich mich in Frankfurt nämlich ziemlich wohl. Auch, wenn das “Wollen” mitunter nicht immer einfach und eindeutig ist. Ich seufze.

“War nett, viel Spaß euch noch!”, verabschiedet sie sich. Ich bin mir sicher, dass ihr Weg sie nicht auf die Tanzfläche führen wird.

“Ja, war nett. Viel Spaß noch…” murmele ich, bevor auch ich mich verabschiede. Ich schreite zur Garderobe, nehme meine Jacke und gehe nach Hause. Es ist gerade einmal halb zwei.

“Morgen gehe ich ins Café”, beschließe ich, noch während ich auf der Zeil Grüppchen mit Musik aus dem Handy und Wodkaflaschen passiere. Ich werde klaren Kopfes die ersten Sonnenstrahlen dieses Jahres genießen und in meinem Buch lesen.

Und vor allem: Ich werde wissen, weshalb ich dort bin.

 

Ein Wort zum Sonntag – und was das mit Sachsenhausen zu tun hat….

Ich hasse Sonntage.

Ja, das muss ich an dieser Stelle so deutlich sagen, da gibt es nichts zu beschönigen, auch wenn ihr Leser mir nun vermutlich einen kollektiven Vogel zeigen werdet.

Schließlich gilt der siebte Wochentag gemeinhin als der gemütlichste, endlich ausschlafen, anschließend das Bett mit den kalten Pommes der Samstagnacht vollkrümeln, dabei binge-watchen bei Netzflix. Was soll man auch draußen?

 

Wegnicken vorm TATORT

Draußen, da verpasst man eh nichts, eine Stadt schläft ihren Rausch aus. Gespenstische Leere sogar auf der Zeil, nein, da bleibt man lieber gleich im Bett liegen und wechselt erst am frühen Abend aufs Sofa, nochmal Tinder checken, anschließend beim TATORT wegnicken. Aber ist ja sowieso schon wieder Schlafenszeit, schließlich gilt es, am Montagmorgen einigermaßen arbeitstauglich im Büro aufzuschlagen.

Für mich dagegen ist der Sonntag meist ein regulärer Dienst-Tag, sodass ich den Sonntag als solchen meist nur daran erkenne, dass mein Briefkasten keine Frankfurter Rundschau beinhaltet und ich stattdessen die BILD am Sonntag lese.

Wenn ich aber – und das kommt selten vor! – dann doch einmal frei habe am heiligen Tage, dann verfluche ich die geschlossenen Geschäfte, die Freunde, mit denen katerbedingt nichts anzufangen ist, die bleierne Schwere, die sich über das Gemüt meiner Stadt gestülpt zu haben scheint. Auch nervt das ewige Warten auf U- oder S-Bahn, schließlich gilt der Sonntagsfahrplan des RMV. Die Busse mancher Linie bleiben gleich ganz im Depot stehen, ist ja eh niemand unterwegs. Irgendwann dann musste ich meine seltenen freien Sonntage zu Großstadtflucht-Tag erklären, an denen ich Wandern gehe oder Radtouren unternehme. Hauptsache raus aus meiner Stadt, die im Koma zu liegen scheint. Anschließend dann schlage ich drei Kreuze, sobald endlich wieder Montag ist, der gewohnte Trubel wieder eingesetzt hat – und komme mir dabei zuweilen recht eigenartig vor, schließlich gilt der Montag schlichtweg als derjenige der Wochentage, an dem sich Otto Normalarbeiter gern sprichwörtlich übergeben möchte.

 

Shisha-Bars und Auf-die-Fresse

Außerdem verfolge ich recht strebsam die lokale Berichterstattung. Beinahe wöchentlich muss ich dabei lesen, dass sich in Sachsenhausen (und insbesondere in Alt-Sachsenhausen) wieder einmal böse Sachen zugetragen haben. Genauso häufig aber ebenso, dass eine Bürgerinitiative dem Treiben im in gewissen Kreises schlicht als “Alt-Sax” bezeichnete Viertel ein Ende setzen und einen Beitrag zu dessen längst überfälliger Aufwertung leisten mag.

Und tatsächlich ist es so, dass man als Frankfurter herzlich wenig Gründe dazu hat, einen Abend in Alt-Sachsenhausen zu verbringen. Es sei denn, man empfindet zufällig eine große Leidenschaft für orientalische Wasserpfeifen, Wodka-Energy für Einsfuffzich oder schlechte Musik in einem Abklatsch einer bajuwarischen Schankwirtschaft.

Klar, es gibt sie, kleine Enklaven wie die großartige Klapper 33, das wirklich stilvolle Old Fashioned oder die zwar etwas elitär anmutende, dafür umso bemerkenswertere Bar BoneChina. Dennoch sollte man einen Besuch Alt-Sachsenhausens tatsächlich tunlichst vermeiden, insbesondere Freitag- und Samstagabends.

Dies wurde mir einmal wieder schlagartig bewusst, als ich neulich freitags auf einen Feierabend-Schoppen in der “Klapper” verabredet war. Kaum hatte ich am Paradiesplatz geparkt und war aus dem Auto gestiegen, fragte mich ein Kerl mit der Statur eines Wandschranks, ob ich Probleme habe, während er eine Flasche “Russian Standard”-Wodka im Mülleimer versenkte. Dieser Umstand bewies zwar Bewusstsein für eine reinliche Umwelt, dass hinter seiner Ansprache jedoch selbstlose Hilfsbereitschaft steckte, wagte ich zu bezweifeln.

Strammen Schrittes marschierte ich also davon, wurde jedoch bald beinahe von einer Horde Polizisten umgerannt, die sich auf eine Gruppe Halbstarker stürzten, die ihre Fäuste hatten fliegen lassen. Nebenan erbrach sich ein Mädchen auf das Kopfsteinpflaster, das ansonsten weniger von Einheimischen als von halbstarken Bauernkindern aus dem Umland und den vielzitierten Junggesellenabschieden aus der Eifel bevölkert war, die es wohl “in der großen Stadt mal so richtig krachen lassen wollten”.

Rühmliche Ausnahme:
Gin Tonic-speiender Elefant in der Bar “Blue China” 

Nach einem einzigen Sauergespritzten trat ich dann auch wieder meinen Heimweg an, ich fühlte mich nicht wohl und gestresst. Ich wich zerbrochenen Flaschen auf den Straßen aus, starte beim Warten auf den Nachtbus hinüber zum “Dönerstrich”, an dem wahlweise gekübelt oder sich wankend ein Döner ins Gesicht geschmiert wurde – und vermisste die Gemütlichkeit, die dieses Viertel tatsächlich manchmal ausstrahlt. Nämlich unter der Woche. Und dachte daran, dass mir ausgerechnet Samstagabend neulich erst den verhasstesten aller meiner Tage gerettet hatte – den heiligen, verfluchten Sonntag…

 

Von einer Sonntagnacht in – ausgerechnet! – Sachsenhausen

Der Fairness halber muss an dieser Stelle erwähnt hat, dass Frankfurt-Sachsenhausen tatsächlich mehr zu bieten hat außer Absturzkneipen und Auf-die-Fresse. So zum Beispiel die beiden traditionsreichen Apfelweinwirtschaften “Zum gemalten Haus” und “Apfelwein Wagner”, welche direkt nebeneinander liegen und nicht ausschließlich von Touristen aus Fernost besucht werden, die sich – unfreiwillig komisch wirkend – am Verzehr von Eisbein mit Kraut und Apfelwein versuchen. Auch zahlreiche Frankfurter Originale scheinen hier unverändert seit mehreren Jahrzehnten vor ihrem Schoppen zu sitzen – nur ich, ich war bislang nie dort gewesen. Es war an der Zeit, das zu ändern. Und es war Sonntag.

Gegen 21.30 beendete ich meinen Dienst, war daraufhin mit einer meiner liebsten Frankfurter Bekanntschaften im “gemalten Haus” verabredet.Ich war zu früh oder sie zu spät, so genau lässt sich das nicht sagen, jedenfalls wurde ich vom Kellner in bester Frankfurter Manier wortlos auf einen freien Platz gedrückt und bekam ohne weiteren Wortwechsel einen Schoppen vorgesetzt.

So also ließ ich meinen Blick streifen, bewunderte all die wunderschönen Wandgemälde, beobachte grinsend einer fernöstlichen Touristenhorde beim Schlachtplattenverzehr.

 

Groß war meine Freude, als ich auch meine liebe Bekannte erblickte, gemeinsam trinken, rauchen und plauschen, mir fehlte es an nichts. Doch schnell ereilte er mich wieder der Sonntag, der Kellner verkündete wortkarg, nun die letzte Bestellung aufzunehmen, es sei ja schließlich Sonntag, da wolle man früh schließen. Ich verfluchte einmal wieder diesen furchtbarsten aller Wochentage, meine liebe Bekannte jedoch zeigte sich zuversichtlich, noch einen Drink in der Nähe einnehmen zu können. Dass dabei sie morgen arbeiten musste, während ich fein ausschlafen konnte, schien ihr dabei egal.

Ich blieb skeptisch, denn erstens war dies ein Sonntag, zweitens war dies hier Sachsenhausen. Doch ehe ich mich versah, nahmen wir nach kurzem Fußweg Platz in der Hopper’s Bar, aufs freundlichste begrüßt von der flinken Bar-Tenderin. Und das keinesfalls alleine, auch in den einzelnen Ecken und Winkeln hatten sich Frankfurter niedergelassen, die in der Nacht von Sonntag auf Montag offensichtlich ebenfalls nichts besseres zu tun hatten. Kaum zu glauben, wie behaglich ich mich ausgerechnet in Sachsenhausen fühlen konnte! Dezente Hintergrundmusik waberte durch den großen Raum mit der wunderbaren Retro-Tapete, Rauchschwaden indes leider nicht. Meine Begleitung bestellt “den Cocktail in dem kleinen Glas mit Zuckerrand” (gemeint war ein Margarita), ich meinen innig geliebten White Russian. Und der war ziemlich gut, sodass recht bald ein zweiter folgte – bis dann, mittlerweile war es gegen halb drei, auch diese Bar ums Bezahlen und anschließende Verlassen bat.

 

Frankfurt ist nicht Berlin. Vor allem sonntags nicht.

Doch wenn man sich gut unterhält, da mag man nicht nach Hause. Auch nicht irgendwann in der Nacht von Sonntag auf Montag, auch nicht in Sachsenhausen. Zielgerichtet wurde also die althergebrachte Kneipe Zum Sternchen am Diesterwegplatz auf einen Absacker angesteuert. Und, was soll ich sagen: Aus einem Absacker (der wohl der günstigste meines bisherigen Lebens war) wurden zwei, die Jukebox tat ihr übriges, und ehe man sich versah, schlug die Uhr fast vier. Zur Wahl blieb nun das Moseleck oder der Heimweg; wir entschieden uns für den Letzteren.

Hinausgetreten auf den Diesterwegplatz erfolgte Verwunderung: Kein Taxi weit und breit. Wir scherzten noch, in Berlin gäbe es das sicher nicht. Aber in Berlin hätten wir wohl auch jetzt noch weiterziehen können, im Zweifel ins Berghain. Ich entschied mich kurzfristig für die Anmietung eines Leihfahrrades (deren Anbieter es mittlerweile mehr als zur Genüge gibt), und fuhr durch die kalte Nacht hinauf ins Nordend.

Als ich ins Bett fiel, da war ich froh: Ausgerechnet im verschrienen Sachsenhausen hatte ich doch glatt vergessen, dass doch eigentlich Sonntag war. Und mit dem Gedanken daran, dass eigentlich schon wieder Montag war und die ersten Aktenkofferträger bereits schlecht gelaunt in der Straßenbahn saßen, schlief ich ein…

Danke, Sachsenhausen! Ausnahmsweise. 

Habt ihr Verständnis für meine abgrundtiefe Abneigung gegenüber dem Sonntag? Oder ist er unbestritten euer Liebster Wochentag? Und: Meidet ihr den Stadtteil Sachsenhausen? Oder hat er auch euch schon freudig überrascht? Ich bin wie immer schon ganz gespannt auf eure Kommentare!

 

Was blieb, war das Vinyl: Allein in Frankfurt/Main…

Sagt euch der Name “Hugo van Haastert” etwas? Nein? Keine Sorge, das tat er mir bis vor Kurzem auch nicht. Kein Wunder, nicht mal einen Wikipedia-Artikel darf der Liedermacher sein Eigen nennen – und wäre ich nicht an diesem einen Dienstagabend in meiner Lieblingskneipe Feinstaub gewesen, so hätte auch ich wohl niemals von ihm erfahren…

Allein in Frankfurt/Main

Doch saß ich nun da, vor meinem Apfelwein, wie üblich in mein Buch vertieft, als ich innehielt. Nur ein halbes meiner Ohren lauschte der Musik, die mittels Schallplatte vom DJ serviert wurde, doch ich vernahm ich sie ganz deutlich, diese eine Textzeile:

“Und mit jeder Zigarette fällt mir mehr von uns beiden ein – wenn ich noch eine Chance hätte, würde alles ganz anders sein, in Frankfurt/Main.
Ja, ich bin allein –  in Frankfurt/Main….”

 

Ich war eigenartig berührt von diesen Zeilen, vielleicht weil auch ich mich, manchmal bis gelegentlich geflissentlich alleine fühlte in dieser Stadt. Ich mochte wissen, wer sie einst gesungen hat. Schnell griff  ich zum Mobiltelefon, fütterte Google mit einigen Textfetzen aus dem Lied. Dieses Internet, das wusste bekanntliich alles, und so wusste auch ich ganz schnell:

Hugo van Haastert war es, der 1977 dieses Lied aufnahm, welches nun – 40 Jahre später – begleitet durch Rauchschwaden durch eine Kneipe im Frankfurter Nordend waberte.

Zurück zu Hause, immer noch pfiff ich die Melodie des Liedes, “allein in Frankfurt/Main”, das wollte mir nicht aus dem Kopf. Wie praktisch, dass das Internet nicht nur alles weiß – sondern auch alles bietet. Dachte ich jedenfalls.

Keine Suchtreffer bei Spotify.
Nicht erhältlich auf Amazon. Nicht bei Apple Music, nicht bei Soundcloud, das gibt’s doch nicht. Ein letztes Ass, das hatt’ ich noch im Ärmel – doch nicht einmal bei Youtube wurd’ ich fündig. Und, räusper räuser, hätte ich illegale Download-Portale bemüht, wäre (!) ich auch nicht fündig geworden. Verdammt.

Dabei wollte ich doch nur Zuhause noch einmal das Lied genießen, Augen zu, Zigarette an. Einen dieser wenigen Momente erleben, in denen man, in denen ich Musik noch bewusst genießen kann.

 

Was blieb, war das Vinyl

Nie hätte ich für möglich gehalten, einmal ein gewünschtes Lied nicht irgendwo in den Untiefen des WWW zu finden.

Was blieb war das Vinyl, jener schwarze Kunststoff, auf den das Lied im Erscheinungsjahr 1977 schließlich gepresst sein worden musste.
Erste Anlaufstelle für ein zielgerichtete Suchen nach alten Schallplatten, Vinyl-Freunde wie ich wussten das, war die Plattform Discogs.

Und tatsächlich wurde ich dort fündig, Originalpressung der Single, guter Zustand, auf der B-Seite: „Hör‘ doch auf, zu träumen“. Der Preis der Schallplatte in Pfund angegeben, „Versand aus Großbritannien“ – wieviel das nun genau in Euro sein mochte, wollt’ ich dann auch gar nicht so genau wissen. Dieses Lied, das war klar, würde ein recht teurer Spaß werden für mich.

Wie die Platte ihren Weg ins vereinigte Königreich gefunden haben mochte, blieb mir derweil ein Rätsel. Was sollt‘s, viel wichtiger war schließlich, dass der kleine, runde Schatz seinen Weg zu mir, nach Frankfurt, finden würde.

Und genau das tat er dann glücklicherweise auch, eine knappe Woche später, sorgfältig verpackt in Zellophan und braunen Pappkarton. Mit sanften Fingern zog ich das ersehnte Stück hinaus, der Geruch einer vergilbten Hülle strömte in mein Näschen.

Genuss bei 45 u/min

Die Platte selbst dagegen tatsächlich fast wie neu, fast liebevoll fand sie ihren Platz auf dem Plattenteller. Das vertraute Knacken beim Aufsetzen der Nadel, bei 45 Umdrehungen pro Minute konnte mein Musikgenuss beginnen.

Und so saß ich da, allein in Frankfurt/Main, und hörte “Frankfurt/Main”. Eine Zigarette zwischen meinen Lippen, die Augen beim Zug geschlossen, Hugo van Haastert singt von verspäteten Linienflügen, der Liebe und schlechtem Englisch. Und, natürlich, von seinem Alleinsein hier, in Frankfurt/Main.
40 years ago. 

 

Gänsehaut auf meinem Rücken, vermutlich schon allein aufgrund des vorangegangen Abenteuers. Verrückt, welch Umstände man doch für ein einziges Lied auf sich nehmen kann. Verrückt, dass es auch im Jahre 2018 noch Musik gab, die nirgends im digitalen Nirvana aufzufinden war.

Verrückt, was Musik auszurichten vermag. Hugo von Haastert drehte sich weiterhin munter mit 45 Umdrehungen pro Minute auf dem Plattenteller meines Schallplattenspielers. Und ich? War in diesem Moment vielleicht auch ein wenig verrückt – aber glücklich…

Habt auch ihr schon derartige Umstände auf euch genommen, nur um ein bestimmtes Lied hören zu können? Kennt ihr noch diese ganz besonderen Momente, in denen ihr Musik ganz bewusst genießen, alles andere um euch herum vergessen könnt? Habt auch ihr schon erlebt, dass euer aktueller Ohrwurm wirklich nur auf Schallplatte erhältlich war? Erzählt mir doch davon!

Zwischen den Jahren

Es ist ein ein eigenartiges Gefühl, dieser Tage durch die Stadt zu schlendern.
Man selbst scheint gedanklich noch am Christbaum festzukleben, ja kann Weihnachten denn wirklich schon vorüber sein, während man durch die Straßen irrt, sich im Supermarkt ums Eck mit Feuerwerk und Wodka aus dem Angebot für die nahende Silvestersause eindeckt.

Frankfurt erscheint dabei befremdlich verlassen, in diesen Tagen Ende Dezember, “zwischen den Jahren”, wie man so schön sagt. Wo auf Mainzer- oder Friedberger Landstraße sonst die Autos Stoßstange an Stoßstange kleben, könnte man guten Gewissens seine Kinder spielen lassen. Im Restaurant bekommt man einen freien Tisch, ohne drei Wochen vorher reserviert zu haben – und auch in den U-Bahnen der Linie U4 lässt es sich ganz unversehen auf einem freien Sitzplatz niederlassen.

Der Alltag unserer Stadt, er hat Pause eingelegt. Kaum jemand muss ins Büro, viele Frankfurter genießen ihre verlängerten Weihnachtstage im Kreise ihrer Liebsten, irgendwo da draußen in dieser Republik. Sind verreist über Silvester, so oder so, sie sind: weg.

Nun, ich will mich nicht beschweren, habe doch auch ich meinen erheblichen Beitrag zu einem verlassenen Gesamteindruck, zu leeren Straßenzügen und U-Bahn-Zügen beigetragen. Über Weihnachten dienstlich unterwegs im Lande, habe ich meine anschließenden freien Tage beim Wandern im Taunus und traditionellem Ausflug nach Marburg verbracht. Wieder zurück, stimmt mich der Anblick meines verlassenen Frankfurts aber dennoch ein wenig schwermütig. Ungewohnte Ruhe. 

Einen freien Nachmittag mit Büchern im Café zu verbringen, wird zur Herausforderung. “Wir haben Urlaub!”, verkünden in geschwungenen Lettern Zettel hinter geschlossenen Glastüren ihre unheilvolle Botschaft. Und ein kurzer, heftiger Schneefall verkündet just zum Ende des Jahres, dass auch Frankfurt sich im Winter befindet.

Wenn der Alltag wieder einzieht

Neben mit kindlicher Freude auf verschneite Autoscheiben gemalte Herzen bleibt die wohlige Gewissheit, dass die Stadt schon ganz bald ihren Alltagsbetrieb wieder aufnehmen wird. Dass U-Bahnen wieder chronisch überfüllt, dass Cafés bevölkert, Straßen verstopft sein werden.

Schön zu wissen, dass die fleißigen Mitarbeiter am Neujahrstag die Spuren der Silvesternacht beseitigen werden, die Stadt anschließend wieder aussehen wird wie geleckt. Schön zu wissen, dass bald ein jungfräulicher Kalender an der Wand hängen wird, ein jeder Tag darauf neue Abenteuer verspricht. Dass auch 2018 Frankfurt Tag für Tag darauf wartet, entdeckt zu werden.

Ehe wir uns versehen, wird es Februar werden. Wir werden entweder stoisch die närrischen Tage ignorieren oder am Faschingssonntag im Kollektiv ausrasten auf dem Römerberg. Und vorher all unsere guten Vorsätze über Bord geworfen haben, uns gemütlich eine Zigarette anzünden – und zur Karteileiche im Fitness-Studio…

Wir werden ein neues Stadtoberhaupt wählen, über die geringe Wahlbeteiligung meckern. Werden uns über astronomische Mietpreise beklagen, dennoch brav Monat für Monat beträchtliche Summen auf die Konten glücklicher Immobilienbesitzer überweisen.

Wir werden uns über die Unpünktlichkeit der VGF beschweren, werden uns über Nachrichten aus dem Bahnhofsviertel erregen. Werden spätestens an Pfingsten Kummer und Sorgen im Stadtwald zu vergessen suchen, schließlich ist Wäldchestag. Werden mit den ersten Sonnenstrahlen hinausströmen in den Stadtwald und ans Mainufer, werden uns ganz sicher sein, dass dieses Jahr ganz sicher “unser Jahr” wird.

Werden ganze Stunden unserer Lebenszeiten in der Schlange vor dem Brentanobad verschwenden, werden glücklich sein, jede Distanz mit dem Fahrrad bewältigen zu können. Werden uns am MainCafé von der Sonne streicheln lassen, nach Feierabend unsere Picknickdecken ausbreiten und erst nach Mitternacht wieder einpacken.

Wir werden Ausflüge zum Langener Waldsee unternehmen, Radtouren an der Nidda, Wanderungen auf den Feldberg. Geliebte Geschäfte werden schließen, darin anschließend Burger-Bratereien eröffnen.

Wir werden beim “STOFFEL” lange Sommernächte verbringen, werden vom Sommerurlaub gebräunt all die vielen Straßenfeste zelebrieren. Werden über Flohmärkte schlendern, uns über unverschämte Preise am Opernplatzfest und zu wenig Platz und Handyempfang am Museumsuferfest beschweren. Wir werden feiern, werden tanzen, werden uns aufregen über wilde Mietfahrrad-Ansammlungen in den Innenstadt. Werden uns bei der Bahnhofsviertelnacht durchs Gedränge schieben und am Ende dennoch mit kaltem Bier in der Hand vor dem nächstbesten Kiosk landen. Werden mal wieder viel zu lange unterwegs sein, auf dem Weg nach Hause nach genau einem Gin Tonic zu viel noch ein Katerfrühstück beim Bäcker erstehen.

Ja, bis wir dann irgendwann die fallenden Blätter im Ostpark beobachten, feststellen, dass die warmen, langen Tage schon vorüber sind. Werden öfters in Museum und Theater gehen, irgendwann feststellen, dass alle Straßenfeste gefeiert sind. Und feststellen, dass wir schon jetzt mal wieder – oh yeah! – viel zu viel Geld für unnützen Scheiß auf der Zeil ausgegeben haben werden.

 

Alles wie immer…

Doch bald schon, da ist Weihnachtsmarkt, und prompt folgt die Erkenntnis:
Ist das neue Jahr schon um? Ja, war denn nicht auch in diesem Jahr alles… irgendwie… wie… immer? 

Ja, das wird es ganz sicher gewesen sein. Das Kalendarium des Stadtlebens, es mag recht stetig sein und vorhersehbar. Doch das Geheimnis des Glücks, es liegt in jedem einzelnen dieser Tage, in all den Momenten, von denen ihr jetzt noch nicht wissen könnt, dass ihr sie erleben dürft. Doch kann es nicht auch ein ganz und gar wunderschönes Gefühl sein, eine Gewissheit unschätzbaren Werts, dass eigentlich alles doch so wird wie immer? Fein säuberlich im Lauf des Jahres terminiert und doch so spannend?

Jeder Eintrag im städtischen Terminkalender ist eine Versprechung.
Vertraut darauf, dass irgendetwas geschieht, auf die Verheißungen eines jeden Moments im neuen Jahr. Genießt das Gefühl, dass jede Sekunde des neuen Jahres Ungeahntes offenbaren kann, lasst euch von ganzem Herzen darauf ein. Von Stadt und Leben überraschen, statt Erwartungen zu hegen.

Denn Frankfurt ist, was du draus machst. 

In diesem Sinne: Einen guten Rutsch hinein ins neue Jahr 2018, Freunde!

 

 

 

Spenden-Überschuss: Wohin mit all der Kohle?

Flugausfall dank Schneechaos, Messerstecher auf der Baustelle und ominöse Maskenmänner: In der Flut all dieser Schreckensmeldungen gehen erfreuliche Nachrichten ja schnell mal unter.

Wie zum Beispiel diese hier:

Die 100.000 Euro-Marke auf dem Spendenkonto für den Wiederaufbau des Goetheturms ist geknackt! 

Außerdem entschieden die Frankfurter online darüber, dass der abgebrannte Turm in bewährter, einfacher Holzkonstruktion wieder errichtet werden soll. Ganz ohne barrierefreien Schnickschnack, ganz ohne sonstiges Brimborium. Zwar deckt die Versicherung die Umsetzung heutiger Bauvorschriften nicht vollständig ab, mit Glück bleibt aber noch eine Menge Kohle auf dem Spendenkonto über.

Was nur anstellen mit dem ganzen Geld? Nun, dies entscheiden unsere lieben Stadtverordneten im Römer. Gerne aber greife ich den werten Damen und Herren ein wenig unter die Arme:

Mit diesen elf Ideen für eine wirklich sinnvolle Verwendung des überschüssigen Spenden-Geldes! 

 

1. Rad-Schnellweg auf der Zeil

Im wilden Zickzack schwerstbepackten Passanten ausweichen, die sich und ihre Primark-Tüten erst im letzten Moment durch einen beherzten Sprung in Sicherheit bringen: Radfahren auf der Zeil gleicht einem Abenteuer mit stets ungewissem Ausgang. An ein zügiges Vorankommen ist aufgrund der permanent notwendigen Ausweichmanöver ohnehin nicht zu denken, sodass man eigentlich gleich absteigen könnte.

Dabei könnte doch alles so einfach sein! Ein Fahrradschnellweg inmitten der Zeil würde für eine saubere Trennung von Radfahrern und Shopaholics sorgen. Freie Fahrt für die Einen, körperliche Unversehrtheit für die Anderen: Happiness für alle! Nach außen hin gesichert würde der Radschnellweg idealerweise mit Panzersperren, von denen nach dem Ende des Weihnachtsmarktes ohnehin einige übrig blieben durfte.

Nicht zuletzt die hässlichen Junkfood-Pavillions in der Straßenmitte –  würde die etwa ernsthaft irgendwer vermissen?

 

2. Anständiger Schobbe für ABC-Schützen

Traurig, aber Alltag an Frankfurter Grundschulen: Selbst mit finanzieller Unterstützung des Sozialamts können sich zahlreiche ABC-Schützen am Schulkiosk gerade mal ’ne nach Autoreifen schmeckende BiFi  leisten, nur mit Glück ist eine Capri-Sonne drin. Ein anständiger Schobben zum Mittagsmahl? Fehlanzeige!

Pädagogen und Ernährungswissenschaftler sind sich einig: Eine vollwertige, gesunde Kost schaut anders aus!

Kinder sind unsere Zukunft, ihr Wohlergehen sollte uns am Herzen liegen. Und was braucht es zum Wohlergehen unserer Kleinen? Richtig: Vitamine! Zahlreiche davon sind in Äpfeln zu finden; aus zahlreichen Äpfeln wiederum besteht Apfelwein.

Was läge also näher, als unserem Nachwuchs ein „Bembelgeld“ für den Sauergespritzten vor der Doppelstunde Deutsch zur Verfügung zu stellen?

A propos Deutsch: Ein gemeinsames Einnehmen des Schobbens stärkt nicht nur das Immunsystem, sondern macht gleichzeitig Schülern mit Migrationshintergrund vertraut mit den heimischen Gepflogenheiten und ist somit beste Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

 

3. Hobbykeller für Eisenbahn-Rainer

Er ist der berühmteste Obdachlose der Stadt und geriet gar zum Politikum: “Eisenbahn-Rainer”, der ein Stück weit prominent würde, weil er den von ihm angestammten Platz unweit der Zeil verlassen musste.

Nun sitzt er wieder da, diesmal aber mit vom Ordnungsamt ausgestellter Sondergenehmigung. Baut Tag für Tag seine beachtliche Modelleisenbahn auf, wird freudig von Passanten gegrüßt. In diesen kalten Tagen wird ihm auch mal ein wärmender Becher Kaffee in die Hand gedrückt, und dennoch bleibt: Das Leben auf der Straße.

geklaut von hamburgmuseum.de

Ist es nicht allerhöchste Eisenbahn (ha! Wortwitz!), dem Eisenbahn-Rainer einen Hobbyraum zu spendieren, in dem seine Eisenbahn auch nachts ihre Runden drehen kann? In dem Rainer jede Nacht ein warmes Bett hat? Mit viel Platz für Freunde und Besuch?

Ich denke, ja. Es ist Weihnachtszeit. Lassen wir unseren Worten Taten folgen und seien wir barmherzig.

4. Double für Feldmann-Double

Wer aufmerksam die Berichterstattung des Frankfurter Amts für Kommunikation für Stadtmarketing verfolgt, der weiß: Der Tag unseres geschätzten Oberbürgermeister müsste eigentlich 60 Stunden haben. Wie auch anders könnte das Stadtoberhaupt auch derart omnipräsent sein?

Wie kann er am Vormittag den Frühschoppen der Tischkick-Freunde 1872 Oberrad e.V. begießen, während er zeitgleich eine Delegation einer Partnerstadt auf dem Römerberg begrüßt? Wie kann er nachmittags mit der ABG verhandeln, während er im selben Moment öffentlichkeitswirksam eine Kunstausstellung eröffnet und einen Baum im Anlagenring pflanzt? Wie kann er abends in die Kameras beim Eintracht-Spiel winken, während er sich doch im selben Moment vor Ort von den Zuständen im Bahnhofsviertel überzeugt? Dabei stehts im Dialog mit dem Bürger bleiben?

Die Lösung ist so einfach wie naheliegend. Nach dem dritten Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt plauderte Stadtrat und Parteikollege Mike Josef aus dem Nähkästchen: “Dass der Peter längst ein Double hat, das ist im Römer offenes Geheimnis! Wie sollte er ansonsten derart präsent sein?” 

eiskalt kopiert von skylineatlas.de

Bei der Vielzahl von Feldmanns (echt) und Feldmanns (Double) Terminen und Auftritten in der Frankfurter Öffentlichkeit ist allerdings zu befürchten, dass Feldmanns Doppelgänger bereits am Rande zum Burnout steht, unverzüglich entlastet werden muss.

Um ihm ein Klinik-Leben zwischen Psychopharmaka und Achtsamkeitsübungen zu ersparen, sollte dringend Geld für ein Double von Feldmanns Double bereitgestellt werden. Und wir Bürger? Könnten uns auf noch mehr Feldmann freuen. Immer und überall.

5. Eine junge Stute für die „Stute“

Sie hat mal 4.000 Mark auf dem Flohmarkt gekostet und begrüßt schon seit über 30 Jahren durstige Gäste in der Kult-Kneipe „zur guten Stute“ mit einem nimmermüden Wiehern.

Doch so sehr sich Wirt Ivo auch um artgerechte Haltung und Pflege der guten Stute bemüht: 30 Jahre in der Kneipe gingen auch am namensgebenden Pferd nicht spurlos vorüber.

Die Zähne gelb vom ewigen Rauch ringsum, das Fell weist erste Lücken auf und hat auch schon mal mehr geglänzt: Zeit, den alten Gaul in den wohlverdienten Ruhestand zu schicken!

Würde eine neue gute Stute angeschafft, so könnte die alte ihren Lebensabend endlich in einer ruhigen Umgebung abseits des Kneipentrubels genießen. Vielleicht ja in Opel-Zoo oder dem historischen Museum?

6. Münzfernrohr für Offenbach

Es ist ja ganz nett anzuschauen, das neu gestaltete Becken des Offenbacher Westhafens. Auch die neuen, teuren Blockbau-Wohnungen ringsum sind sicherlich recht schön. Doch wenn die Neu-Offenbacher verträumt aus dem Fenster ihres Apartments starren, während sie auf den Lieferando-Boten warten, dann blicken sie eben doch auf: OFFENBACH.

Seien wir barmherzig und spendieren wir Ihnen ein Münzfernrohr am Becken ihres Hafens. Ermöglichen wir Ihnen einen wirklich schönen Ausblick – den auf Frankfurt nämlich.

Mit den Einnahmen aus dem Münzfernrohr könnten auch mittelfristig die hier vorgeschlagenen Projekte finanziert werden. In Frankfurt, versteht sich.

 

7. Bällchenbad für Fußballfans

Mal ist’s der Triumph über den Sieg, mal der Frust über die Niederlage: Der Besuch eines Bundesligaspiels setzt bei den Anhängern der Mannschaften nur allzu oft überschüssige Energien frei. Da werden gleich nach Abpfiff unflätige Lieder angestimmt, da werden Mütter gegnerischer Fans beleidigt. Manchmal gar nutzt man die Abgeschiedenheit des Stadtwalds, um sich gegenseitig eins auf die Mütze zu geben.

Gelingt es den Fußballfans nicht, noch vor Ort ihre überschüssigen Energien abzubauen, erfolgt meist eine Fahrt in die Frankfurter Innenstadt. Ist diese nach nur einer Stunde Fahrt mit der S-Bahn erreicht (unterwegs wurde gleich dreimal die Notbremse betätigt…), geht das wüste Treiben munter weiter.

Insbesondere Anhänger auswärtiger Fußballmannschaft lassen hier auch gerne mal städtisches Mobiliar zu Bruch gehen.

Schluss damit, das muss nicht sein!

(c) mamainessen.de

Ein Bällchenbad in der Nähe des Waldstadions würde Fußballfans dabei helfen, ihr Zuviel an Energie auch sozialverträglich abzubauen. Bunte Plastikbälle minimierten das Verletzungsrisiko, auch die Beamten der Polizei empfänden eine Schlacht im Bällchenbad sicher als angenehme Abwechslung zu ihrem ansonsten oftmals tristen Dienstalltag.

Ausgepowert und mit sich und der Welt im Reinen, würden selbst auswärtige Fans mit Sicherheit eine echte Bereicherung für unsere Stadt. Bällchenbäder schaffen Frieden, lasst uns eines finanzieren!

 

8. Sofortrente für Sternzeichen-Mann

Er ist der wohl einzige Frankfurter Bedürftige mit eigener Facebook-Fanpage und auch ihr habt sicherlich schon seine Bekanntschaft gemacht:

Der „Sternzeichenmann“ ist – ähnlich wie Peter Feldmann, siehe oben – omnipräsent in der Stadt, man trifft ihn immer und überall.

Der „Sternzeichenmann“ wird so genannt, weil er nicht einfach um Geld bittet, sondern gegen eine kleine Spende kleine Zeichnungen mit den verschiedenen Sternzeichen unters gönnerhafte Volk bringt.

Wer keine Verwendung für ein solches Bild sieht und das Geschäft dankend ablehnt, bekommt ungefragt ein rührendes Gesicht vorgetragen.

Eigentlich gar kein Problem, insbesondere weil der gute Mann stets freundlich und respektvoll agiert. Dennoch bleibt anzumerken: Da der „Sternzeichenmann“ immer und überall im Stadtbild präsent ist und man somit gern auch mehrmals am Tage in seine (wenn auch netten!) Geschäftsgebahren verwickelt wird, kann‘s ein mit der Zeit ein wenig anstrengend werden.

Irgendwann hat auch der letzte Frankfurter sein Heim mit Sternzeichenbildern tapeziert, irgendwann sollte auch der nette „Sternzeichenmann“ einmal schlafen und zur Ruhe kommen dürfen.

Spendieren wir ihm eine monatliche Sofort-Rente, damit er nicht mehr rastlos umherstreifen muss – und wir Frankfurter auch mal anderen Geschäften nachgehen können…

 

9. Urlaub für empfindliche Anwohner

Das Kultur-Festival „STOFFEL“ im Günthersburgpark und der weltbekannte Frankfurter Weihnachtsmarkt auf dem schönen Römerberg: Zwei Veranstaltungs-Highlights, wie sie schöner nicht sein könnten. Eigentlich.

Denn Jahr für Jahr schmälern  jeweils einzelne Anwohner die Freude der Besucher. Das Recht des Einzelnen auf gesittete Nachtruhe und einen mitteleuropäischen Lernpegel wiegt schwerer als das Recht auf Konzertfreuden und den siebten Glühwein – was leere Bühnen auf dem STOFFEL und ein Ende des Weiznachtsmarkts um 21 Uhr zur Folge hat. NOCH!

Schicken wir die beiden lärmempfindlichen Anwohner doch einfach während des Festivals und Weihnachtsmarktes in den Urlaub!

Bezahlen wir Ihnen eine Auszeit an einem ruhigen Ort! Im Ural beispielsweise soll es ziemlich still sein; wird frühzeitig gebucht, ist vielleicht sogar All inclusive drin.

Das restliche Frankfurt kann dann weiterfeiern. Tanz und Glühwein inklusive.

 

10. Eine Henne für den „Brickegickel“

Nach jahrelanger Abwesendheit (vielleicht war er in Afrika?) ist in diesem Jahr endlich unser „Brickegickel“ an seinen angestammten Platz an der alten Brücke zurückgekehrt.

Bild geklaut bei Wikipedia

Groß und Klein scheinen über diesen Umstand gleichermaßen erfreut, werfen liebevolle Blicke auf den Vogel. Nur eine Frage, die stellt sich niemand:

Fühlt er sich nicht ein wenig einsam, unser „Brickegickel“? Auch Vögel sind soziale Wesen, haben Bedürfnisse. Besorgen wir dem Gickel also eine adrette Henne, damit er nicht mehr alleine auf den Main starren muss. Mit Glück gibt‘s irgendwann auch Nachwuchs – und bei der Vorstellung an all die kleinen „Gickelchen“ schmilzt mein Herz schon jetzt dahin…

 

11. Winterboots für diese Dame

Wie bitte, immer noch Geld übrig? Wie schön! Dann nämlich können wir obendrein dieser unbekannten jungen Dame ein paar Winterstiefel spendieren:

Ich jedenfalls empfand eine gehörige Portion Mitleid, als sie neulich am Stoltze-Platz an mir vorüberstiefelte… pardon: tütete.


“Frage nicht, was deine Stadt für dich tun kann – frage dich selbst, was du für deine Stadt tun kannst!” – Getreu diesem Crédo habe ich nun gleich elf (meiner meinung nach) hervorragende vorschläge gemacht, den spenden-überschuss zu verprassen möglichst sinnvoll und zum wohl aller zu investieren.
Habt ihr bessere Ideen? Dann lasst sie mich gern wissen!
Ich warte derweil auf eine zügige Umsetzung durch das Frankfurter Stadtparlament….