Harrys Frohes Fest

Unter den fünf Hallendächern des Frankfurter Hauptbahnhofs kreuzen sich jeden Tag hunderttausende Geschichten. Niemand hastet einfach so und ohne Anlass über das schwarze Fake-Marmor des Querbahnsteigs, noch nie hat der Zufall jemanden durch die Tore der berüchtigten Verkehrsdrehscheibe getrieben. Über tausend Züge bringen von hier aus Geschäftsleute zu ihren Geschäftsterminen, Liebende zu ihren Geliebten und Reisende zu ihren neuen Abenteuern. Nicht zu vergessen natürlich all die Eisenbahner, die inmitten all der Regsamkeit ihr Geld verdienen. Zwischen Gleis 1a und Gleis 24 sucht man nach Anschlusszügen, Rat und einer kleinen Stärkung, manch einer auch nur nach leichter Beute oder einem Schlafplatz für die nächste Nacht. Über all jenen wacht Atlas, der die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern trägt.

Auch Harry befand sich auf der Suche. Als junger Mann war er jemand, den man gerne einen „Schönling“ nannte, die Frauen mochten sein sorgsam zurückgekämmtes, schwarzes Haar, die tiefbraunen Augen mit dem wachen Blick. Beinahe hätte man ihn für einen Italiener halten können. Nun hatte der Zahn der Zeit freilich auch nicht vor Harry Halt gemacht. Der verbliebene Haarkranz auf dem Kopf hatte längst eine schneeweiße Farbe angenommen, und wie Harry morgens im Badezimmerspiegel feststellen musste, war der neugierige, fordernde Ausdruck seiner Augen einer Müdigkeit gewichen, die er sich selbst nicht erklären konnte. Auch die Gelenke machten nicht mehr mit, er machte, wie er fand, eine jämmerliche Figur.

So sah man ihn also in gebückter Haltung über die Bahnsteige des Hauptbahnhofs schlendern, im Zeitungkiosk, sich Zucker in den Kaffee rühren, an der Würstchenbude oder – ab dem späten Nachmittag – auf einer der Bänke sitzend, ganz vertieft in „seine“ Frankfurter Rundschau. An sieben Tagen in der Woche, ein „Wochenende“ gönnte er sich nie. So wie die große Abfahrtstafel in der Haupthalle oder die obligatorische, umgekehrte Wagenreihung war Harry über die Jahre hinweg ein Teil des Bahnhofsalltags geworden.

Den Zügen und Lokomotiven schenkte Harry ein ganz besonderes Augenmerk. Es hatte sich so viel verändert! Wehmütig dachte er an „seine Zeit“ zurück, als noch die stolzen Elloks der Baureihe 103 InterCity-Züge mit wohlklingenden Namen an den Prellböcken zum Halten brachten. All das war lange her; ein Vierteljahrhundert war seit seiner letzten Fahrt vergangen. Harry dachte oft an den Moment zurück, als er zum letzten Mal mit seiner Lokomotive am Stellwerk vorbeizog, als sein Zug ein letztes Mal langsam unter dem Schatten des Hallendachs verschwand, während der Prellbock von Gleis 9 unaufhaltsam näher rückte. Ein letztes Mal hatte er zum Führerbremsventil gegriffen, ein allerletztes Mal sicher und ruckfrei angehalten. Nicht nur einmal hatte er in den Jahren zuvor von diesem Moment geträumt und war schweißgebadet aufgewacht. Nun war es so weit gewesen. Zack, aus, vorbei. Eine kleine Delegation des Bw1 hatte ihn in Empfang genommen; der Personalrat lobte Harrys Verdienste für die Bundesrepublik, der Dienststellenleiter überreichte Blumen und einen kräftigen Händedruck. Harry hasste Blumen.

In den nächsten Wochen wurde Harry traurig. Nicht wegen der Blumen, die waren längst verwelkt – aber statt den „besten Jahren“, wie es immer hieß, brachen düstere Tage über ihn hinein. Anfangs hatte er sich noch mit Freude seinem über die Jahre auf die Ausmaße eines kleinen Wolkenkratzers gewachsenen Bücherstapel gewidmet: Hermann Hesse, J.M. Simmel, Stephen King. Doch irgendwann war auch das letzte Buch gelesen. Harry unternahm Spaziergänge an der Nidda, bis er jeden Grashalm beim Namen kannte, staubte die Vitrine mit den Modellen „seiner“ 103 ab, bestellte lächerliche Massagegeräte bei einem Shoppingsender. Eines Tages hielt er die Schwere nicht mehr aus, die ihn befallen hatte. Er verließ seine kleine Zweizimmerwohnung in der Eisenbahnersiedlung Frankfurt-Nied und machte sich auf zum S-Bahnhof. Den Weg kannte er blind. Es fühlte sich eigenartig an, wieder in einem Zug zu sitzen, doch als ihn der kieselgrau-orange Triebwagen auf den Tiefbahnsteig von Gleis 102 spuckte, fühlte er sich wie elektrisiert: Harry war zurück am Hauptbahnhof.

So folgten fortan alle seine Tage demselben Ritual. Nachdem er ausgeschlafen hatte – vor neun Uhr stand er selten auf – drehte er eine Runde um den Block, machte Besorgungen und bereitete sich anschließend ein kleines Frühstück zu. Die Haferflocken sogen sich voll Milch, schmierige Schlagersänger sangen auf HR 4 über die Liebe. Wenn ihn früher Kollegen auf den Umstand angesprochen hatten, dass er Junggeselle geblieben war, hatte Harry zu scherzen gepflegt: „Ich bin doch schon mit der Eisenbahn verheiratet!“ Nun musste er sich eingestehen, dass sein Spruch eine traurige Wahrheit beinhaltete. Nach den 12-Uhr-Nachrichten kämmte sich Harry das weiße Haar wie einst sorgsam zurück, nahm den olivgrünen Anorak von der Garderobe und polierte seine besten Schuhe. Dann trat er seinen „Job“ an.

Am Hauptbahnhof angekommen, ließ sich der alte Mann erst einmal treiben. Oft musste er aufpassen, nicht von rücksichtslosen Reisenden überrannt zu werden. Dass es die Leute heute auch immer so eilig hatten! Früher, grollte er, nahm man noch Rücksicht auf alte Menschen wie ihn. Immer wieder blickte er sehnsüchtig den ausfahrenden Zügen hinterher. Wenn sich die Türen schlossen und der Aufsichtsbeamte zur Säule schritt, um den Abfahrtsauftrag zu geben, schluckte er. Ihm würde niemals wieder jemand einen Abfahrauftrag erteilen.

Hin und wieder hielt er einen Plausch mit seinen „Kollegen“. In den ersten Jahren war er häufig noch alten Weggefährten begegnet, tauschte Anekdoten von den guten, alten Zeiten aus. Erzählte, wie er damals auf der Riedbahn mit acht klotzgebremsten Silberlingen trotz einlösiger Bremse ruckfrei zum Stehen kam. Wie er als junger Lokführer am Hauptgüterbahnhof auch mit 40 Achsen „ohne Luft“ sanft beifuhr, wie er mit der E50 bei Wind und Wetter 3000 Tonnen Heizöl über die Spessartrampe zerrte, wie er mit dem TEE nach München einmal 30 Minuten Verspätung herausgefahren und die 103 am Fahrtziel beinahe AW-reif übergeben hatte. Die letzte Geschichte war gelogen, aber wen kümmerte das schon.

Doch im Laufe der Zeit traf er immer seltener auf bekannte Gesichter. Auch die Haudegen von einst wurden nicht jünger, setzten sich nach und nach zur Ruhe. Verabschiedeten sich in ihre Rentnerdomizile, pflanzten Gurken und Tomaten an, saßen mit der Gattin auf der Terrasse, spielten mit den Enkelkindern oder wenigstens Boule im Park. Allein Harry war übriggeblieben, ein gebückt durch den Bahnhof schlenderndes, olivgrünes Relikt der guten, alten Bundesbahn. Die Eisenbahner von heute waren anders, sie trugen schicke Uniformen, wirkten freundlich, aber gleichsam distanziert. Der Stolz schien ihnen auf eigentümliche Weise abhandengekommen. Oft blickten sie Harry skeptisch an, wenn er sich als einer von ihnen zu erkennen gab. Dann holten sie ihre Mobiletelefone aus der Tasche und wischten darauf hin und her, antworteten knapp oder täuschten Beschäftigung vor. Nur selten nahm sich einer Zeit, Harry länger zuzuhören. Immerhin, die Sprüche waren geblieben: „Das ist nicht mehr meine Eisenbahn!“, das hatte sein Lehrlokführer schon in den Fünfzigern gesagt.

Klar, es war nicht alles schlecht. Harry mochte das neue Dach des Hauptbahnhofs, besonders im Sommer, wenn die Sonne hell und freundlich durch die Scheiben fiel. Kein Vergleich zu damals, als das rußgeschwärzte Glas die Bahnsteige in schwarzgraue Tristesse tränkte. Auch die Bahnsteige wirkten sauber und modern, wenn auch der grassierende Reinlichkeitswahn Harry manchmal in Rage brachte. Daran, dass man nur noch in gelben „Hühnerkäfigen“ rauchen sollte, wollte er sich nicht gewöhnen. Harry rauchte überall, so wie sich das gehörte, und nahm den ein oder anderen Rüffel gern in Kauf.

Was er jedoch schmerzlich vermisste, waren die ratternden Fallblätter der Zugzielanzeiger. Stattdessen wurde die Bahnhofshalle mehr und mehr von einer unverständlichen und nervenzehrenden Kakophonie aus automatischen Ansagen geflutet, manchmal musste sich Harry die Ohren zuhalten, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Nachdem Harry seine Runde gedreht und Smalltalk mit „Kollegen“ geführt hatte, holte er sich einen Kaffee bei Bäcker Eiffler, „gern mit e bisscher Milch“. Am Kiosk kaufte er sich eine Tageszeitung und wechselte ein paar freundliche Worte mit den Verkäuferinnen.

Nach der Lektüre nahm er eine Analyse des Betriebsablaufs vor: Wo waren die Anschlusszüge weg, wo die Wagenreihung umgekehrt, wo Ersatzzüge im Einsatz? Harry stand parat, wusste, wo die Luft brennt. Er entwickelte ein Gespür dafür, wann ein ratlos um sich blickender Reisender seine Hilfe brauchte. Dann gab er Verbindungsauskünfte (den jeweiligen Jahresfahrplan hatte er im Kopf), geleitete zu reservierten Sitzplätzen, zeigte den Weg zum Fundbüro. Manchmal bekam er zum Dank ein Geldstück in die Hand gedrückt, das er der Bahnhofsmission spendete. Wenn eine Lampe einmal streikte, war Harry der Erste, der den Defekt bemerkte. Freundlich wies er das Servicepersonal zur Reparatur an.

Nach Feierabend aß er in der Kantine zu Abend, die sich neuerdings „Casino“ schimpfte. Als Pensionär genoss auch er die erschwinglichen Preise und das täglich wechselnde, meist immerhin mittelgute Stammessen. Zumeist saß er allein am Tisch. Wenn er nach Hause kam, schaltete er augenblicklich den Fernseher an, er ertrug die Stille in der Wohnung nicht. Er trank zwei Gläser Meisterschoppen – mehr erlaubte der Arzt nicht – und zappte ein wenig durch das TV-Programm, das auch nicht mehr war, was es mal war. Dann ging er zu Bett und dachte daran, wie schön es war, gebraucht zu werden. Man brauchte ihn doch am Hauptbahnhof. Oder etwa nicht? Meist war er eingeschlafen, ehe er eine Antwort gefunden hatte.

So vergingen also 25 Jahre, in denen sich Harry mit der Gewissenhaftigkeit eines Deutschen Beamten auf den Weg zum Bahnhof machte. Nur wenige Male litt er an heftigen Erkältungen und anderen Wehwehchen, dann lag er auf dem Sofa, hatte ein schlechtes Gewissen und sehnte sich nach seiner Eisenbahnerfamilie vom Hauptbahnhof, der netten Frau vom Zeitungskiosk und der flinken Mannschaft der Bäckerei. Mal ganz zu schweigen von den Lokomotiven, die ihn noch immer faszinierten und denen er mit einer Mischung aus Wehmut und Stolz hinterher sah. Es wurde Winter, Frühjahr, Sommer, Herbst am Hauptbahnhof. Menschen, Momente und das Millennium flogen nur so vorbei. Bahnchefs, Krisen und Pandemien kamen und gingen, Harry blieb.

Doch in der Adventszeit 2022 änderte sich plötzlich seine Stimmung. Wie jedes Jahr hatte man den Hauptbahnhof festlich geschmückt, Lichterketten schmückten Pavillons und Tragwerke, kleine Tannenbäume funkelten von der Fassade des Empfangsbaus herab. An jedem Sonntag spielte eine Blaskapelle Weihnachtslieder vor dem Adventskalender, den man in der Haupthalle aufgestellt hatte. Obwohl der Bahnhof in diesen Tagen weniger Hektik als sonst versprühte, wirkten die Menschen eigenartigerweise noch gestresster, wenn sie bepackt mit schweren Koffern und Tüten über den Bahnsteig hetzten. Immer wieder bekam Harry zum Dank Schokoladenweihnachtsmänner zugesteckt, wenn er einer Dame beim Fahrkartenkauf behilflich war oder einen Zugbegleiter darum bat, noch einige Sekunden mit dem Schließen der Tür zu warten. Harry mochte keine Schokolade, und doch bedeutete ihm die Wertschätzung so viel. Trotzdem wurde sein Herz ein wenig schwer. Er konnte sich nicht genau erklären, was passiert war – aber es schien, als habe sich die Umlaufbahn seiner kleinen Welt um einen Millimeter geändert. Als sei in einem Schweizer Uhrwerk ein winziger Zahn eines Zahnrades gebrochen, als tickte die Zeit nicht mehr ganz richtig.

In diesen Tagen, als Harry häufig müde auf einer Bank saß und auf die Lichterketten starrte, bis sich funkelnde Punkte in seine Netzhaut brannten, reifte in Harry eine Idee heran. In einer Woche war Heiligabend – und er würde sich selbst mit einem Geschenk überraschen.


In der Nacht zum 24. Dezember 2022 schlief der alte Beamte unruhig. Immer wieder ging er in Gedanken das Gespräch durch, das er heute führen würde. Auf dem Weg zum Hauptbahnhof lächelte er und starrte auf den Schnee, der die Gleise des ICE-Werks mit weißem Puder bedeckt hatte. Der Stromabnehmer eines ICE 3 schlug an der vereisten Oberleitung Funken. Wann hatte er zuletzt weiße Weihnachten erlebt?

Am Ende seines „Arbeitstages“ suchte Harry nicht wie sonst die Kantine auf. Der Bahnhof war verlassen, kaum ein Reisender mehr zu sehen. Eine Truppe von Polizisten schritt mit grimmigen Gesichtern am Bahnsteig entlang; sie machten keinen Hehl daraus, dass sie gerade lieber bei ihrer Familie wären, statt Dienst zu schieben. Harry hob die Hand zum Gruß und wünschte Frohe Weihnachten. Als die Beamten außer Sichtweite waren, rauchte Harry zwei Zigaretten am Stück gegen die Aufregung. Pünktlich um 18.35 rollte der Intercity 2323 auf Gleis 16 ein, der Zughaken und die Luftleitungen der Lokomotive waren von Eisklumpen verdeckt. Als sich die Tür zum Führerstand öffnete, war Harrys Moment gekommen. Der Lokführer, ein junger Mann mit Irokesenschnitt und blond gefärbtem Haar, bemerkte ihn zunächst nicht. „So einen hätten sie bei der Bundesbahn aber nicht frei herumlaufen lassen!“, dachte Harry und besann sich auf seinen Plan. Er trat an den Mann mit der merkwürdigen Frisur heran. „Entschuldigung?“

Der Lokführer schien ihn nicht gehört zu haben. Offensichtlich hörte er Musik, denn er hatte zwei dieser neumodischen Stöpsel im Ohr stecken. Harry ließ sich nicht beirren und gestikulierte mit den Händen. Nun sah der junge Mann zu ihm auf und befreite sein Ohr vom Technikgedöns. „Ich bin hier nur der Lokführer, wenn Sie eine Auskunft brauchen, dann…“, begann er, doch Harry wiegelte ab. „Die besten Auskünfte erteile hier noch immer ich!“, begann er zu lachen. Der junge Kollege wirkte irritiert und sah ihn ein wenig unbeholfen an. „Frohe Weihnachten erstmal!“, wünschte Harry, während er ein altes Polaroid aus seiner Geldbörse nestelte. „Ich weiß, du möchtest an Heiligabend nicht von einem alten Mann belästigt werden. Doch ich bin einer wie du und habe einen Wunsch!“

Harry hielt dem Lokführer das schwarzweiße Foto vors Gesicht. Es zeigte ihn in seinen besten Jahren, wie er sich aus dem Seitenfenster seiner 103 beugte und den Bremszettel entgegennahm. Im Hintergrund zeigte die große Bahnhofsuhr am Stellwerk zehn nach Eins. Die Mine des Lokführers entspannte sich. „Oh, ein Kollege also! Ich wusste nicht, dass… Was kann ich denn für dich tun?“ Harry eröffnete ihm seinen Weihnachtswunsch. Nur einmal kurz, bat er, würde er gerne Platz auf dem Führersitz nehmen. Es würde auch nicht lange dauern. Nun lächelte der junge Mann, drehte sich um, öffnete die Tür der weißen Lokomotive und machte eine auslandende Geste: „Na denn hereinspaziert!“

Es dauerte ein wenig, bis Harry die Trittstufen genommen hatte. Seine Knie zitterten, als er sich mit einem Ruck die Griffstange hochzog und den Führerstand betrat. Sofort fiel ihm der Geruch auf, der so anders war als bei den alten Elektroloks. Irgendwie wie Plastik. Harry erschrak beinahe, als er in den Führersitz sank und dieser sein Gewicht sanft auffing. Die waren ja sogar gefedert heutzutage! Irre. Kein Vergleich zu den brettharten Schemeln, auf denen er selbst seinen Dienst verrichtet hatte. Er staunte, als er sah, dass dort, wo sich einst das MFA befunden hatte, nur mehr ein Display übrig war. Und, überhaupt: Das gesamte Pult war voller Displays! Harry strich über den Fahrschalter, berührte vorsichtig das Führerbremsventil und traute sich nicht zu fragen, wo denn der E-Bremssteller geblieben war.

So saß Harry einfach da, die linke Hand auf dem Fahrschalter und den Blick aus dem Frontfenster gerichtet. Er hätte nicht sagen können, ob für fünf Minuten oder Stunden. Das hier war sein Platz und würde es immer bleiben. Der Lokführer saß auf dem Beimannsitz und ließ ihn gewähren. Eine Träne kullerte Harrys Wange hinab, als er aufstand und dem jungen Mann die Hand reichte. Sein Händedruck, dachte er, war auch mal kräftiger. Aber so war das eben mit dem Älterwerden. „Ich danke dir so sehr!“, verabschiedete er sich. „Du hast einem alten Mann gerade eine große Freude gemacht. Einen ordentlichen Haarschnitt solltest du dir trotzdem verpassen lassen, aber vorher brauch´ ich deine Hilfe!“

Der Lokführer hielt ihn an den Oberarmen fest, bis Harry wieder festen Boden unter den Füßen hatte. „Und nun schnell ab zu deinen Liebsten, es ist schließlich Heiligabend!“, sagte Harry und gab dem jungen Mann einen Klaps auf die Schulter. Sein Plan war aufgegangen.
Der junge Kollege entschwand in Richtung der U-Bahn, und auch Harry stand bereits auf der Rolltreppe hinab zur S-Bahn, als er einen weiteren Plan fasste. Heute würde er seinen geliebten Apfelwein nicht allein trinken!

Kaum unten angekommen, machte Harry auf dem Absatz kehrt und fuhr wieder hinauf. Er verließ den Hauptbahnhof, überquerte die Straße und betrat das Bahnhofsviertel. An Heiligabend wirkte sogar das berüchtigte Viertel ein wenig friedlicher als sonst, nur einige verlorene Gestalten saßen auf dem Bürgersteig und starrten in den Nachthimmel. Nach fünf Minuten stand er vor dem „Moseleck“, wo er früher das ein oder andere Feierabendgetränk mit seinen Kollegen zu sich genommen hatte. In den Mosaikfenstern der Kneipe strahlten Lichtersterne, das schmutzige Schild über dem Eingang versprühte noch mehr Patina als bei seinem letzten Besuch: „Warme Küche – geöffnet von 06.00 – 04.00 Uhr Früh“.

Harry trat ein und rieb sich die Hände. Er genoss die Wärme der Gaststube und blickte unsicher umher. Es schien, als sei er nicht die einzige verlorene Seele, die Heiligabend nicht allein verbringen wollte. Die emsige Kellnerin flitzte mit vier Gläsern Binding in Richtung von vier Herrschaften, die sich dem Kartenspiel gewidmet hatten und sich Begriffe zuriefen, die Harry nicht verstand. Zwei Männer stritten sich an der Jukebox: „Wenn du noch ein einziges Mal „Driving Home for Christmas spielst, dann hau´ ich dir aufs Maul!“, unterband der Eine den Versuch des Anderen, die Weihnachtsstimmung etwas anzuheizen. Harry suchte sich einen freien Platz am Tresen und entledigte sich seines grünen Anoraks. Kurze Zeit später stand ein Glas Apfelwein vor ihm. „Frohes Fest“, sagte Harry leise zu sich selbst, nahm einen Schluck und lächelte. Er hatte noch mal vorne rechts gesessen. Dort, wo er hingehörte.

„Wenn ich´s Ihnen doch sage, der gute Kerl hat nur gesagt, dass er müde sei und nur mal kurz die Augen zumachen müsse!“ – die Kellnerin wirkte aufgeregt und zog nervös an ihrer Zigarette, während sie die Frage der Beamten zum x-ten Mal beantwortete. „Es gab also keine Anzeichen, dass sich der Herr in einer medizinischen Notlage befand?“, fragte der Wortführer der beiden Polizisten und machte sich Notizen auf einem Klemmbrett. „Ei, ich hab´s doch schon so oft gesagt: Der hat wirklich ganz normal auf mich gewirkt! Der hat einfach seinen Schoppen getrunken, und plötzlich hat er sein´ Kopf aufm Tresen abgelegt. Ich hab´ noch gefragt, ob alles gut sei, da sagt er jaja, ihm gings gut, er sei nur müd. Der hat auch net aufgeregt gewirkt oder so, wenn ich mich so erinner´, dann hat er sogar ganz glücklich geguckt, wenn net gar gelächelt!“

Der Kommissar nickte knapp. „Gut, Frau Evanowa, das war´s dann erst mal!“
Dann wandte er sich dem Notarzt zu, der den Tresen dazu benutzte, um den Totenschein auszufüllen. „Nichts mehr zu machen, gell?“ Der Mediziner schüttelte mit dem Kopf. „Keine Spuren von äußerer Gewalteinwirkung zu erkennen. Scheint so, als wäre Harald Nickel einfach für immer eingeschlafen.“

So trat der Lokomotivbetriebsinspektor seine allerletzte Reise an. Die Polizeibeamten und die Kellnerin standen vor der Kneipe und blickten dem Leichenwagen hinterher, bis er auf der Höhe des Hauptbahnhofs in der Dunkelheit verschwand. Es hatte wieder zu schneien begonnen, zarte Flocken segelten auf das harte Pflaster des Bahnhofsviertels. Von drinnen waberte ein Lied herüber, die Jukebox spielte „Driving Home for christmas“. Auf dem Vorfeld des Hauptbahnhofs gellte ein Pfiff.

“Die letzte Ernte” – (M)ein Frankfurter Hörbuch

Na Freunde, wie habt ihr die (gewonnene) Zeit des “Lockdowns” und des Zuhause-Bleibens so verbracht? Habt ihr die Fremdsprache in Angriff genommen, die ihr schon immer einmal lernen wolltet, habt ihr einen Roman geschrieben oder endlich eure Gitarre vom Staub befreit?

Wir alle haben sie wohl: Die großen und kleinen Herzensangelegenheiten, für die im Alltag doch immer viel zu wenig Zeit war.

Auch ich hegte schon einige Zeit lang einen Wunsch. Nämlich den, eine meiner Kurzgeschichten zu vertonen. Gesagt, getan: Ich habe mir Ende April ein kleines Home-Studio eingerichtet und “Die letzte Ernte” als Hörbuch eingesprochen – eine Geschichte, die von meiner eigenen Kindheit inspiriert wurde und die Frage aufwirft, was aus all denen wurde, die noch vor einigen Jahrzehnten auf den heimischen Streuobstwiesen dafür sorgten, dass tonnenweise Äpfel ihren Weg in die Keltereien fanden. Und davon mitunter sogar leben konnten.

Die drei Teile der Geschichte findet ihr auf YouTube, und zwar hier:

Glücklich ist, wer so wundervolle Menschen kennt wie ich:
So arrangierte mein Freund Michael kurzerhand eine musikalische Begleitung, und das Intro hat Daria als beste Frau von allen eingesprochen.

Viel Freude euch beim Lauschen, Freunde!

“Spurensuche in Bockenheim”: Auf literarischen Pfaden durch die Stadtgeschichte

Woran denkt ihr zuerst, wenn euch der Frankfurter Stadtteil Bockenheim in den Sinn kommt? Klar, wahrscheinlich an die Bockenheimer Warte (die eigentlich im Westend steht), das weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Senckenberg-Museum, den zunehmend brachliegenden Uni-Campus oder urige Kneipen wie “Doktor Flotte” – und, natürlich, den Messeturm gibt’s auch noch. Aber kann es das gewesen sein?

Natürlich nicht! Dass der im Jahr 1895 eingemeindete Stadtteil weit vielschichtiger ist und eine durchweg spannende Geschichte vorweisen kann, möchte “Spurensuche aus Bockenheim” unter Beweis stellen. Das Buch ist im Oktober 2019 im von mir sehr geschätzten mainbook-Verlag erschienen – und landete dankenswerterweise kurz vor seiner Veröffentlichung in meinem Briefkasten.

Dreißigen Autoren, eine Hommage

Ich selbst lebe zwar im Nordend, bin aber häufig im 40.000 Einwohner starken Stadtteil unterwegs. Häufig genug, um mich zurechtzufinden und mit Freunden eine gute Zeit zu haben – jedoch nicht häufig genug, um wirklich in den Stadtteil, seine Vergangenheit und seine prägenden Persönlichkeiten einzutauchen.

Warte, U-Bahn-Eingang, Messeturm:
Bockenheim ist so viel mehr als das!

Meine Neugierde war also geweckt – konnte das Buch meine Wissenslücken stopfen? Stolze dreißig Autoren bereichern das Buch laut Vorwort um ihre “informativen, originellen und historischen Texte”. Dass ich keinen einzigen von ihnen namentlich kenne und mir auch die Herausgeber Richard Grübling, Norbert Saßmannshausen und Otto Ziegelmeier nicht bekannt bin, muss nichts heißen – also los!

Den Auftakt des Buches bildet eine Anekdote aus dem Jahr 2015, als auch Frankfurt-Bockenheim zur neuen Heimat für zahlreiche Flüchtlinge aus Staaten wie Syrien und Afghanistan wurde. Eine Helferin erzählt von den Widrigkeiten der ersten Deutschunterricht-Stunden genauso wie vom Wert des Gefühls, für Menschen in Not da zu sein. Diese Geschichte liegt gleichzeitig am nächsten an der Gegenwart – zunehmend wird das Buch fortan zur Zeitreise und lässt Straßenzüge, Gebäude und Menschen kurzzeitig lebendig werden.

Anekdoten und Überraschungen

Und auch Pflanzen – wusstet ihr etwa, dass im Jahr 1907 eine ausgewachsene Eibe öffentlichkeitswirksam an ihren neuen Stammplatz im Palmengarten transportiert wurde, an dem sie heute noch bewundert werden kann? Wahrscheinlich genauso wenig, wie ihr von all den griechischen Familien wusstet, die seit den Siebzigerjahren Teil des Stadtteils wurden, gut vernetzt sind und Bockenheim bis heute um ihre Kultur bereichert haben. Ich war überrascht über das politische Ringen um das alte Bockenheimer Depot – wer hätte gedacht, welche Kämpfe vonnöten waren, bis ich selbst dort ganz selbstverständlich Theatervorführungen besuchen konnte?

Die Autoren, das wird schnell klar, brennen für Bockenheim und lassen einiges an Herzblut in ihre Texte fließen. So wird der Kneipe “Volkswirtschaft”, die ich selbst schon einige Male ganz unbedacht besucht habe, eine ganze Liebeserklärung zuteil – und die Verzweiflung eines alten Kartographen über die fortwährende Veränderung Bockenheims lässt echtes Mitgefühl in mir aufflammen.

An dieser Stelle soll freilich nicht gespoilert werden – aber immer wieder hat mir das Buch echte “Aha!-Effekte” beschert. Oder habt ihr etwa gewusst, dass die Schrift “Futura” – heute im Standardpaket eines jeden Computers – ihre Wurzeln im Frankfurter Stadtteil hat?

Welch Größen einst in Bockenheimer Buchhandlungen gelesen haben, welch Herausforderungen es für die seit jeher hier ansässige “TITANIC”-Redaktion zu meistern galt? Wusstet ihr, dass nicht nur Satire, sondern auch die Nullnummer der bis heute großen “taz” in Frankfurt-Bockenheim entstanden ist? Nein? Dann habt ihr schon jetzt einen guten Grund, euch selbst auf Spurensuche zu begeben!

Besonders gut gefällt mir, dass zwischen den Texten immer wieder eingestreute “Fun facts” auf unterhaltsame Weise für echtes Kennerwissen sorgen.

Bock auf Bockenheim?

Wenn ihr nun neugierig geworden seid – oder einfach nur wissen wollt, weshalb das Werk euch einen Grundlagenkurs im Buchdruck liefert, dann zögert nicht lange und macht euch auf zur nächsten Buchhandlung!
Nach zwei verregneten Nachmittagen, während derer ich mich auf “Spurensuche” begab, bin ich nun nicht nur erheblich schlauer – sondern werde fortan auch mit nochmals offeneren Augen durch Frankfurt-Bockenheim wandeln….

Spurensuche in Bockenheim
erschienen im
mainbook-Verlag
im lokalen Buchhandel
oder
notfalls auch auf Amazon

Einladung zum Zweiten: Ein Literatur-Tipp für den Herbst

Drei Jahre sind vergangen, seit der Größenwahn-Verlag mit der “Frankfurter Einladung” eine Anthologie von Kurzgeschichten und Gedichten auf den Büchermarkt geworfen hat. Ein heterogenes Autoren-Kollektiv setzte damals einzelne Stadtteile als Handlungsort in Szene – einheimische Rezepte machten die literarische Ode an die Stadt perfekt.

2019 legt der Verlag nach: Mit der zweiten Ausgabe der “Frankfurter Einladung” rücken nicht allein Stadtteile, vielmehr ganz konkrete Orte in den Fokus der Handlungen und Gedanken. Pünktlich zum Beginn der verregneten Tage könnt ihr als Leser wieder tief in die Seele unserer Stadt eintauchen, ganz ohne euer Bett oder eure Coach zu verlassen. Auch ich selbst – und darüber freue ich mich besonders! – durfte zwei Geschichten zum Gesamtwerk beitragen….

44 Orte. 44 Geschichten.

Niemand wählt einen Schauplatz, der ihm völlig gleichgültig ist, als Ausgangspunkt für eine Erzählung oder ein Gedicht. Die Beziehung zum Ort ist zum Schreibimpuls geworden”



Herausgeberin Susanne Konrad beschreibt in ihrem Vorwort sehr treffend ihr Anliegen, in der zweiten Ausgabe ihrer “Einladung” statt einzelner Stadtteile die echten Herzensorte ihrer Autoren in den Vordergrund zu rücken. Vom Hauptfriedhof zu den alten Cassella-Werken, von einem Bücherschrank in Bornheim bis zur Wörthspitze in Frankfurt-Höchst: Vierzig ortsansässige Autoren erwecken in der Angang Oktober erschienen Anthologie ganz unterschiedliche Flecken der Stadt zu literarischem Leben. Dabei, so finde ich, ist für jeden Leser etwas dabei. Der gemeine Neu-Frankfurter kann seine Wahlheimat auf besondere Art und Weise kennen lernen, der Alteingesessene dagegen wird erkennen, dass jedem so oft passierten und doch kaum beachteten Ort ein Zauber innewohnen kann.

Geschichten auch aus meiner Feder…

Tja, ich mag es nicht verheimlichen:
Auch ich bekam die Chance dazu (an dieser Stelle ein riesengroßer Dank an dich, Anette!), als einer der 44 Autoren auch zwei meiner Geschichten zum Gesamtwerk beizusteuern.

Für mich fühlt es sich sehr gut an, zwischen all den spannenden Geschichten und Gedichten auch zwei meiner eigenen Werke zwischen dem Buchdeckeln zu finden. Ein junger Mann steckt den Koreanischen Pavillon in Brand und ein altgedienter Lokomotivführer ist seiner Ehe müde und findet an einer Trinkhalle neben Erfüllung noch ganz anderes…

Vielleicht findet ja auch ihr Gefallen an meinen beiden Beiträgen? Findet es heraus und gönnt euch das just erschienene Buch. Was gibt es in dieser Jahreszeit schon schöneres, als es sich am ganz persönlichen Lieblingsort (womit eine Brücke geschlagen wäre) bequem zu machen und in ein tolles Buch zu versinken?

Die “Frankfurter Einladung 2” gibt es ab sofort beim Buchhändler in eurer Nachbarschaft, direkt beim Verlag oder notfalls auch bei Amazon.

Neues bei MainBook: Meine Lesetipps für den März

Im März 2019 hat sich die Sonne zwar vereinzelt aus dem Winterschlaf zurückgemeldet, doch können Wind und Regen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Frühling noch ein wenig auf sich warten lässt. Ideale Bedingungen also, um es sich auf dem Sofa oder im Lieblingscafé bequem zu machen und sich in Geschichten zu verlieren!

Echte Lokalpatrioten greifen hierbei freilich zu Frankfurter Lektüre – so wie diesen beiden druckfrischen Büchern aus dem Hause Mainbook, die ich euch nun vorstelle.

Robert Maier: “Virus Cop – Der Tote an der Nidda”

Mit “Pankfurt” veröffentlichte Robert Maier im Jahr 2016 seinen ersten Roman. Damals konnte ich nicht anders, als das Debut an dieser Stelle in den höchsten Tönen zu preisen und euch wärmstens ans Herz zu legen. Auf das zweite Werk aus Maiers Feder war ich also ganz besonders gespannt.

Dieses ist im Februar 2019 erschienen, trägt den TItel “Virus Cop – Der Tote an der Nidda” und ist laut Verlag der Auftakt zu einer Serie von Geschichten um den Ruheständler Olaf, dessen Sohn Tobias Kommissar bei der Kripo ist.

Worum geht’s?

Tobias hat’s nicht immer einfach: Seine Kollegen nehmen ihn nicht so recht für voll. In den Augen seines Vaters hat er sich ohnehin für den falschen Beruf entschieden – doch jetzt, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, möchte Olaf ihm ein wenig unter die Arme greifen.Als der namensgebende Tote an der Nidda gefunden wird, wittert er seine Chance: Als IT-Experte installiert er einen Virus auf Tobias’ Diensthandy, der ihm Informationen zuspielt und den Zugriff auf polizei-interne Dokumente gestattet.

Gemeinsam mit seinem alten Freund Gottfried, Frankfurter Urgestein und trotz seiner Krebserkrankung geschäftlich in aller Welt unterwegs, beginnt Olaf auf eigene Faust zu ermitteln. Der Plan ist, Tobias mit den Ergebnissen des Alleingangs zu versorgen und ihn am Ende als den Helden darstellen zu lassen, der den Mörder oder die Mörderin schnappt und in Polizeikreisen endlich Anerkennung findet.

Dazu begibt sich Olaf nicht nur auffällig oft in Apfelweinwirtschaften, sondern auch ins studentische Milieu: Der Tote, stellt sich heraus, war nämlich ein begabter Physikstudent. Als es Olaf gelingt, den Laptop des Opfers zu hacken, nehmen die Dinge ihren Lauf – und gemeinsam mit Gottfried wühlt er sich nicht nur durch die familiäre Vergangenheit des Toten, sondern erlebt auch manch erotisches Abenteuer…

Mein Fazit

Ein Vater installiert einen Trojaner auf dem Diensthandy seines Sohnes, welcher bei der Polizei arbeitet – und greift auf interne Informationen zurück, um auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen. Puh – es hat ein wenig gedauert, bis ich mich auf dieses Setting einlassen konnte.

Sowohl Vater Olaf als auch Sohnemann Tobias scheinen mir recht dünn gezeichnet. Abgesehen davon, dass die beiden eine gemeinsame Junggesellenbude bewohnen – Tobias’ Mutter kam bei einem tragischen Autounfall ums Leben – bleiben weite Teile der Charaktere über das Buch hinweg verborgen. Großartig willensstark und kämpferisch zeigt sich dagegen Olafs alter Freund Gottfried, dessen Unterhaltungswert mich beim Lesen ausnahmslos zum Schmunzeln brachte.

Die Nebenfiguren erscheinen mir ein wenig arg klischeebehaftet. Ob alkoholkranker Onkel, arroganter Professor oder die Professor-Gattin, die ihre Sinnlichkeit für ihre ganz eigenen Ziele benutzt: Hach, das ist dann doch ein wenig ausgeleiert.

Ein fremdgesteuerter Polizist: Ja, diese frische Grundidee hat Potential und verspricht noch weitere Abenteuer von dem altgedienten IT-Experten Olaf, dessen krebskranken Freund und natürlich Tobias, der sich mühsam seinen Stand in der Kriminalpolizei erarbeitet. Schade aber, dass in diesem ersten Teil der Reihe die Idee des “Virus Cops” nur selten zum Treiber der Geschichte wird. Für die Fortsetzung wünsche ich mir, dass der “Virus” noch viel mehr zum Aufriss der Erzählung wird. Dennoch bin ich gespannt darauf, ob Gottfried genesen und zum Bestandteil neuer Abenteuer werden wird.

Die liebevoll eingestreuten Episoden in mir allzu gut vertrauten Frankfurter Räumlichkeiten und Ortschaften können allerdings jede Durststrecke und Klischee-Kauerei entschädigen. Ja, auch das Buchcover, welches Erinnerungen an schlecht gestaltete Hüllen von Computerspielen aus den frühen Neunzigern erinnert. Wenn die Romanhelden in Sachsenhäuser Wirtshäusern versacken, in Bockenheimer Studenten-WG’s einfallen und sich mit Alkoholikern in – na klar! – Griesheim herumärgern, dann lacht das Frankfurter Herz.

Versierte Krimi-Fans können sicherlich zu ausgeklügelterer Lektüre greifen – eingefleischte Frankfurter kommen an diesem Buch jedoch nicht vorbei. Alle anderen indes dürfen sich auf das zweite Abenteuer des “Virus Cop” freuen, in dem kleine Schwächen hoffentlich ausgebügelt sind und die Idee des “Virus-Cop” ein wenig mehr in den Vordergrund rückt. Dass Maier schreiben kann, hat er mit “Pankfurt” schließlich eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Da geht noch was!

Robert Maier: “Virus-Cop: Der Tote an der Nidda”
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Andreas Heinzel: “Herr Neumann will auf den Olymp”

Auch das zweite Buch, das ich euch heute vorstellen mag, ist das zweite “Kind” seines Autors. Das Debut von Andreas Heinzel, “Die Monarchos”, wurde im Jahr 2016 bei mainbook publiziert. Mit “Herr Neumann will auf den Olymp” legt der gebürtige Frankfurter nun eine Geschichte nach, auf die man erst einmal kommen muss.

Worum geht’s?

Die Handlung entführt uns in eine Post-Feldmann-Ära, genauer: In eine Zeit, in der Frankfurt von einem hippen Oberbürgermeister regiert wird. Balthasar Neumann ist ein smarter Typ, bekennend schwul und wird von den Frankfurtern nicht nur für sein Lächeln geliebt. Analogien zu Klaus Wowereit sind natürlich bloßer Zufall!

Allerdings hat “Balla”, wie die Frankfurter ihr Stadtoberhaupt aufgrund seiner Extrovertiertheit liebevoll nennen, auch eine andere Seite: Durchaus narzisstisch veranlagt, träumt er im Stillen von einem “Groß-Frankfurt”, in dem der Hochtaunuskreis, Darmstadt und Hanau nur noch Stadtteile der Mainmetropole sind.

Der Protagonist denkt eben gerne groß. So groß, dass er auch vor einer Bewerbung für die olympischen Sommerspiele nicht zurückschreckt. Gemeinsam mit seiner rechten Hand, dem gewieften Lebemann Stefan Drosdorf, klügelt er mit “Five for Frankfurt!” nicht nur einen taffen Slogan aus, sondern kann das Olympische Komitee mit einem aufwendig gedrehten Image-Film von Frankfurt als Austragungsort überzeugen. Dass beim Film mitunter mit recht fragwürdigen Mitteln gearbeitet wurde, muss ja niemand wissen

Nachdem die Stadt den Zuschlag bekommen hat, fangen die Probleme an: Der ganze Einfallsreichtum des “Frankfurter Olympischen Komitees (FOK)” ist gefragt, wenn es beispielsweise darum geht, einen geeigneten Platz für das Olympiastadion zu finden. Auch für das olympische Dorf will ein adäquater Platz gefunden werden – was sich schwierig gestaltet. Dass die Nachbargemeinde Maintal wenig begeistert von Neumanns Idee ist, das Stadion kurzerhand auf dortiger Fläche zu errichten, ist nur der Anfang einer Welle der Widrigkeiten.

Da ist zum Beispiel der Stadtkämmerer Beierle, der vor explodierenden Kosten warnt und Neumann dazu zwingt, sämtliche Gelder für Reparationen von Straßen und Spielplätzen auf Eis zu legen. So wird auch Kindergärtnerin Britta zu Neumanns Widersacher, weil dieser die Rutsche ihres Kindergartens nicht in Schuss bringen lässt. Kurzerhand bildet sie eine Protestbewegung gegen die olympischen Spiele. Ob Stefan Drosdorf sie mit einer Charme-Offensive für das Projekt einnehmen kann?

Neumann verliert indes zusehends die Nerven. Als endlich ein Platz für das olympische Dorf gefunden ist, will ausgerechnet ein altes Ehepaar sein Haus nicht räumen, um Platz für die Baustelle zu machen. Die Kosten gleiten langsam aus dem Ruder, und auch Drosdorf stößt an seine Grenzen. Als dann noch ein findiger Manager einer US-amerikanischen Burger-Kette den olympischen Rummel in Frankfurt für eine an Absurdität kaum zu überbietende Marketing-Kampagne nutzt, drohen dem Oberbürgermeister die Dinge endgültig aus der Hand zu gleiten…

Mein Fazit

Kinder, was habe ich gelacht! “Die folgende Geschichte ist von vorne bis hinten an den Haaren herbeigezogen”, schreibt der Autor im Epilog. Eine maßlose Untertreibung! Okay, ich gebe zu, dass ich einige Seiten gebraucht habe, um mich auf das hanebüchene Setting einzulassen.

Der Romanheld ist mir dann aber mitsamt seiner Gefolgschaft direkt ans Herz gewachsen. Vom selbstverliebten Oberbürgermeister bis hin zur jungen Architektin des Stadions sind sämtliche Figuren in ihren Macken und Eigenarten derart liebenswürdig gezeichnet, ihre vielen Konflikte sind selten hervorsehbar, doch immer glaubwürdig. Das Erzähltempo ist flott, schnell wechseln sich Handlungsstränge ab und immer wieder werden neue Nebenschauplätze eröffnet.

Die Handlung wirkt auf eine positive Art und Weise konstruiert – was sich vor allem zum Ende der Lektüre hin bemerkbar macht, wenn auch Schicksal und Beweggründe einer jeden noch so kleinen Nebenfigur restlos aufgeklärt werden. Kaum, dass ich das Buch aus der Hand gelegt hatte, war ich fast ein wenig traurig darüber, dass das Geschehen nur Fiktion ist und Frankfurt wohl vorerst keinen ausgeflippten “Balla” als Stadtoberhaupt bekommt. Auch von den olympischen Sommerspielen in meiner Stadt werde ich wohl nur träumen dürfen.

“Die tolldreiste Geschichte, wie Frankfurt die Sommerspiele bekam”: Selten hat mich Satire so gut unterhalten, ohne dass sie auf Kosten der Spannung agiert. Selbst Nicht-Frankfurtern sollte Heinzels Zweitveröffentlichung den einen oder anderen lauten Lacher entlocken.

All das macht “Herr Neumann will auf den Olymp” zu meiner größten Empfehlung für den März 2019. Chapeau für diese Romanidee – da muss’ man erst mal drauf kommen!

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Lese-Tipp: Des Rauschers neue Abenteuer

Wann kommt man zum Lesen, wenn nicht im Winter? Auch ich ziehe mich an den kalten, grauen Tagen mit Vorliebe zurück, um mich der Abarbeitung meines Lese-Stapels zu widmen. Dessen letzten Zuwachs hat mich nicht nur bestens unterhalten, sondern mir obendrein auch immer wieder ein lokalpatriotisches Schmunzeln ins Gesicht gezaubert. Grund genug, um euch eines meiner Lieblingsbücher des Winters 2018 vorzustellen! 

Über Autor Gerd Fischer habe ich auf diesem Blog schon mehrfach berichtet: Mit seiner Krimi-Reihe um den hitzköpfigen Kommissar Andreas Rauscher hat mir der gebürtige Altenstädter schon viele Stunden der Lesefreude beschert. Nachdem sein dem Apfelwein nicht abgeneigter Protagonist in seinem letzten Fall noch einen Anschlag auf sein – und natürlich auch mein! –  geliebtes “Stöffche” abwehren musste, taucht er während der Ermittlungen seines jüngsten Falles in die Geheimnisse seiner Ahnen ein. 

Worum geht’s? 

“Frau Rauschers Erbe”, veröffentlicht in den ersten Dezembertagen 2018, beginnt mit einer Rückblende. Frankfurt, im Jahr 1985: Ein Herr bekommt seine Henkersmahlzeit in Form zünftiger Küche vorgesetzt. Rippchen mit Kraut, dazu ein Bembel Ebbelwoi – wenig später dann der letzte Atemzug des nichtsahnenden Namenlosen. 

Einmal umblättern, und der Leser befindet sich inmitten der Gegenwart: Der aufgrund einiger Verstöße gegen die Dienstordnung suspendierte Kommissar Rauscher findet in seinem Briefkasten ein Schreiben von einem Notar vor. Zu seiner Überraschung wird er zum Alleinerben seiner just verstorbenen Tante Adelheid erklärt. Der Bockenheimer kann sich darauf zunächst keinen Reim machen, denn schon seit seiner Kindheit ist der Kontakt zu seiner Tante abgebrochen. 

Dass etwas mit dem Erbe “faul” ist, wird dem Kommissar schnell bewusst. Spätestens, als dieser von seinem Cousin Thomas angegangen wird, welcher das Erbe für sich beansprucht und auch vor Gewalttaten nicht zurückschreckt, schwant ihm, dass hier Etwas im Argen liegt. Seine Eltern erweisen sich während seiner Ermittlungen nicht als sonderlich auskunftsfreudig, sodass er sich zunächst allein der Hilfe seiner Freundin Jana an seiner Seite sicher sein kann. Die Polizei-Kollegin ist ebenfalls vom Dienst suspendiert, nachdem sie sich an Rauschers Alleingängen in dessen letzten Fall beteiligt hatte. 

Nicht nur, dass die Kommissarin dem Romanhelden mittels heißem Apfelwein am Leben hält – auch steht sie ihm bei der Aufklärung des rätselhaften Todes seines Onkels beiseite. Dass Rauscher seinen Sohn Max noch mehr vermisst als einen Bembel Süßgespritzten, sieht sie ihm mehr als nach: Sogar mit Rauschers Ex-Freundin Elke ist sie befreundet. Diese ist mit dem gemeinsamen Sohn nach Hamburg verzogen, nachdem Rauscher sie in einer Hals-über-Kopf-Aktion vor dem Traualtar hat stehen lassen, um eine Selbstmörderin zu retten. 

Während das Paar bei Rauschers Eltern noch auf Granit beißt, zeigen sich Andere jedoch ausgesprochen auskunftsfreudiger: Sowohl ein Ahnenforscher als auch der Hausarzt von Rauschers verstorbenen Tante wissen Fakten zu verlauten, die Kommissar Rauscher und seine Freundin Jana in einen Strudel familiärer Zerwürfnisse, rätselhafter Nachrichten und ungeklärten Fragen ziehen. Antworten auf diese erfährt allein der Leser des Romans, der im Taschenbuch-Format vom mainbook-Verlag publiziert wurde. 

Lesen & Verschenken: Eine gute Idee!

Ich habe gelesen, dass 26 Prozent aller Deutschen glücklicherweise noch immer Bücher zum Weihnachtsfest verschenken. Falls ihr also noch immer nach der Suche nach einem passenden Geschenk für einen eurer Lieblingsmenschen seid, da wisst ihr Bescheid, gelle? 

Klar, Lokalkrimis sind nicht immer literarische Meilensteine und sind auch eher selten für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert. Doch das müssen sie auch gar nicht: Ein Protagonist, mit dem sich zumindest alle Eigensinnigen und Apfelwein-liebhabenden Frankfurter (wie ich es einer bin!), macht gelegentlich holprige Dialoge allemal wieder wett. Und wenn sich der Romanheld im “Gemalten Haus” mit einem wertvollen Zeugen trifft oder seine Freundin im Niddapark joggen geht, dann ist man als einheimischer Frankfurter dazu geneigt, sich zu neigen – hinein in die Kissen von Sessel oder Sofa, um der kalten Welt da draußen zu entfliehen. Hinein in die des Kommissars Rauscher. Der in seinem jüngsten Fall nicht nur in die Abgründe seiner Familie eintaucht, sondern sich gleichfalls auf die Suche nach der Herkunft seines Familiennamens macht. Ob er wohl verwandt mit der berühmten Dame aus der Klappergass’ ist? Na, lest doch einfach selbst! 

In diesem Sinne: Auf ein frohes, neues Lesejahr! 

“Frau Rauschers Erbe” 
erschienen im “Mainbook”-Verlag 
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Mutig im Rahmen seiner Möglichkeiten: Jakob Schwerdtfeger liest (s)ein Buch

Gewinner mehrerer Poetry-Slam-Wettbewerbe, ein Auftritt in der Hamburger Elbphilharmonie, sogar im Genre des Battle-Rap erfolgreich: Jakob Schwerdtfeger ist der ungekrönte König Frankfurter Wortkunst in der heutigen Zeit. 

Seine Erfolge allerdings hat der 30-Jährige als “Jey Jey Glünderling” eingeheimst. Erst in diesem Jahr hat er sich von seinem bewusst sperrig gewählten Künstlernamen getrennt, unter dem zwölf Jahre lang auf den Bühnen stand. Über Gründe für die Abkehr von seinem Alter Ego mag man nur spekulieren können; dass der Wortakrobat mit dem brachialen Stimmorgan sich nun aber zunehmend im literarischen Bereich versucht, mag gewiss einer der Gründe für die Besinnung auf seinen (gut)bürgerlichen Namen sein.

Schwarmintelligenz als Lektorat? 

Nach einer ersten Veröffentlichung eines eigenen Buches – der Textsammlung “Traumberuf Marktschreier” – versucht sich der Frankfurter nun an der hohen Kunst des Romanschreibens. Gänzlich Rampensau, schließt sich Schwerdtfeger allerdings nicht in seiner Schreibstube ein und entwickelt seine Geschichte allein in vertraulicher Zusammenarbeit mit einem Lektor: In einer mit “Mutig im Rahmen meiner Möglichkeiten” betitelten Veranstaltungsreihe lädt der Autor monatlich eine interessierte Zuhörerschaft dazu ein, sich die jüngst entstandenen Kapitel seines Werkes anzuhören und die Entstehung des Romans kritisch zu begleiten. 

Die Schwarmintelligenz als der bessere Lektor? Eine öffentliche Lesung einer unvollendeten Geschichte? Einen Konsens schaffen, wo es keinen Konsens gibt – weil auch die Kunstform der Literatur so unendlich subjektiv ist? Kann das gut gehen? Macht das Spaß?  

Das möchte ich gerne herausfinden. Nicht nur, weil ich – und daraus mache ich keinen Hehl! – ein großer Fan von Schwerdtfeger bin. Am 19. November mache ich mich auf den Weg zum wohl merkwürdigsten Ort, an dem ich jemals eine Lesung besucht habe: Die Trucker-Kneipe “Zur Insel” im Frankfurter Osthafen, welche vom Gastgeber als Location auserkoren wurde. 

Literatur in der Trucker-Klitsche

Wo sich sonst Fernfahrer Schnitzel und Pommes Frittes in die übernächtigten Gesichter schaufeln, sitzt an diesem Abend ein junges, urbanes Publikum den Tischen mit karierten Kunststoffdecken. Kaum ein Platz in der kleinen “Insel” ist mehr frei, der Gastgeber indes hat Stellung auf einem Barhocker bezogen. Neben ihm: Anya Schutzbach, Chefin des Verlages “Weissbooks”, welcher bereits sein Erstlingswerk verlegt hat und nun auch seine Romandebut veröffentlichen möchte. 

“Begleitet Jakob während seiner Transformation vom Poetry-Slammer zum Romanautor” – neben der Mittvierzigerin wirkt Schwerdtfeger für mich wie ein kleiner Schuljunge. “Er sollte, er muss seine Romanfigur noch weiter entwickeln, ihn niemals langweilen lassen!”

Die Romanfigur, das ist ein Museumswächter, wohnhaft im Gallus, vom Beruf gelangweilt, vom Privatleben überfordert. Ein fruchtbarer, wenn auch nicht gänzlich jungfräulicher Boden also für einen lustigen, bestenfalls auch spannenden Roman. Schwerdtfeger fackelt nicht lange und liest das erste von den drei am heutigen Abend erwarteten Kapiteln.

 

In gewohnt schneller, überdrehter Manier flitzt er über Zeilen und Absätze, was den einen (mir!) sehr gefällt, anderen derweil nicht so. Das Feedback bleibt durchmischt. Der Protagonist der Vorlesung durchlebt eine drogengeschwängerte Nacht, wacht am nächsten morgen im Bett einer Künstlerin auf, deren Videokunstwerk er Nacht für Nacht bewacht. Nette Idee, wie ich finde! 

Am Ende des Kapitels bittet Schwerdtfeger um Feedback, was ein wenig eigenartig ist – entspricht er doch sonst einer recht unnahbaren Kunstfigur, die schon weit größere Bühnen bespielt hat. Ich selbst kann es nicht lassen und weise den Autor darauf hin, dass die Türen von U-Bahn-Zügen mitnichten “immer piepen” und stelle klar, dass allein die S-Bahnen der Baureihe 430 immer “piepen”; auch dann, wenn sich gerade einmal kein Aussteigender im Türenbereich befindet. Der Autor lacht und verspricht, diese Tatsache bei der Korrektur seines Buches zu berücksichtigen. 

Zehn Zuhörer, elf Meinungen 

So geht es munter weiter; dem nächsten Kapitel folgen Fragen und Anmerkungen der Zuhörer. Doch auch Schwerdtfeger hat Fragen mitgebracht: Wie soll er eigentlich wohnen, der Protagonist? Wie nachvollziehbar hat er die Kunstwerke geschildert, von denen der Museumswärter Nacht für Nacht umgeben ist? Wie glaubhaft erscheint die Liebelei zwischen Jasper und der Künstlerin?

Das Feedback der Zuhörer ist erwartungsgemäß divers: 
Wie das eben mit Büchern so ist, haben zehn Leser elf Meinungen. Während die einen von Schwerdtfegers Satzstakkato ein wenig angestrengt sind, freuen sich andere darüber, dass der Autor seinem vom Poetry Slam angehauchten Duktus treu geblieben ist. So auch ich!

Der wohl älterer Zuhörer im Raum meldet sich zu Wort. Schwerdtfeger, moniert er, könne mit seinem flotten Erzählstil wohl kaum eine Leserschaft jenseits der 60 erreichen. Aus einem Impuls heraus schüttele ich den Kopf,an dieser Stelle bin ich nicht d’accord.

Die Gretchenfrage ist wohl: Bleibt Schwerdtfeger sich und seinem Duktus treu und erreicht damit alleine “seine” Zielgruppe der jungen Erwachsenen so-zwischen-zwanzig-und-Mitte-dreißig, oder schreibt er massenkompatibel, um auch noch die hinterletzte Leser-Splittergruppe zu erreichen?

Nee nee, denke ich mir, der Junge soll sich mal schön treu bleiben. Wer sich für seine Texte zu alt fühlt, kann ja auch gerne Rosamunde Pilcher lesen.

Hellhörig werde ich, als der Gastgeber Einblicke in die Konzeption seines Romans gibt. An dieser Aufgabe bin ich selbst schon mehrfach gescheitert, ich denke an die unvollendeten Manuskripte in meiner Schublade. Schwerdtfeger hält jedenfalls nichts vom aufwendigen Plotten: “Ich schreibe drauflos”, sagt er.

 

“Wo die Geschichte hinführen wird, ist noch nicht ganz klar. Ich habe mehrere Ideen, erst langsam wird mir klar, welche Wege Jasper gehen wird. Bis dahin fülle ich nach und nach Jaspers Wochentage, lasse ihn sich schon mal für einige Kapitel später verabreden”. Ich ziehe meinen Hut vor so viel Gelassenheit, welche der Autor bei seiner Mammutaufgabe an den Tag legt! 

Übrig bleibt die Frage: “Warum macht der das?”

So oder so: Langeweile kommt keine auf, etwas abrupt beendet Schwerdtfeger seine Lesestunde und verweist auf die nächste Ausgabe von “Mutig im Rahmen meiner Möglichkeiten” am 17. Dezember. Auch die Vertreterin seines Verlages rührt noch einmal in der Werbetrommel, dann lichten sich die Stühle in der Truckerkneipe. 

Übrig bleibt die Frage: Warum macht der das der, Glünderling – pardon, der Schwerdtfeger? Ist es allein der Mut, der ihn nicht mit dem Vorlesen nicht warten lässt, bis sein Werk vollendet ist?

Ich als Laie denke jedenfalls, dass ein Lektorat nicht einem beliebigen Kollektiv anvertraut werden sollte – vielmehr jemandem, der ein wenig Ahnung vom “Geschäft” hat. Was allerdings bedeuten würde, dass das Romandebut im stillen Kämmerlein entstehen würde – und der Wortakrobat auf manch Bühnenpräsenz verzichten müsste. 

Vielleicht liegt genau hier der Hase im Pfeffer – Schwerdtfeger ist ein Bühnenmensch und Entertainer, vermutlich kann er einfach nicht anders. Es ist wohl weniger der Mut im Rahmen seiner Möglichkeit, sondern seine Lust auf Interaktion und Scheinwerferlicht, der ihn diesen ungewöhnlichen Weg gehen lässt. 

Dass das Scheinwerferlicht in diesem Fall lediglich aus der schummrigen Beleuchtung einer Truckerkneipe besteht, scheint ihn nicht zu stören – so wenig wie mich, denn ich komme gerne wieder. Ich bin gespannt, wie sich Museumswächter Jasper bis zur nächsten Lesung entwickeln wird – und kaufe das Buch gerne selbst dann, wenn ich den Inhalt schon vorab kenne. Fan ist eben Fan. 

“Ich hab’ das Gefühl, ich hätte den Roman selbst mitgeschrieben”, sagt mein Tischnachbar zum Abschied. Dann stehe ich in der kalten Luft vor der “Insel”, umgeben von Zugmaschinen. Die Fernfahrer haben längst Feierabend und sich in ihre Kojen verkrochen. Und auch ich freue mich auf mein Bett. Vielleicht blättere ich vor dem Schlafen noch ein wenig in einem Buch.




Von Frankfurt aus in alle Welt: Wie ich dem “Postcrossing” verfiel

Noch bis vor Kurzem dachte ich ja, ich sei der letzte Mensch dieses Planeten, der Freunde und Familie gerne mittels Postkarten beglückte. Während im Urlaub meine Freunde üblicherweise Instagram-Stories und Videos auf WhatsApp als Gruß an die Daheimgebliebenen fabrizierten, erkundigte ich mich in allerfeinstem Schulenglisch nach “postcards” und “stamps”, bevor ich anschließend Kugelschreiber griff. 

Die Rechtecke aus Karton machen mir einfach Spaß; sie sind zwar ein wenig aufwendiger zu erstellen, fassen recht wenig Inhalt und sind gerne wochenlang unterwegs – doch zeugen Stempel und Marken von ihrer langen Reise, beweist meine Handschrift mich als ihren Urheber, formen geschwungene Buchstaben meine Gedanken.

Das einzige Manko meiner Leidenschaft: Ich schrieb zwar häufig Postkarten, doch empfing ich äußerst selten welche. Meinen Briefkasten erreichten lediglich regelmäßig meine Tageszeitung sowie unregelmäßig Rechnungen, die ich zu recht dekorativen Stapeln türmte.

Dann aber, an einem Sommertag vor acht Wochen, las ich in der Frankfurter Rundschau einen Artikel über das Postcrossing. Seitdem schreibe ich nicht nur täglich Postkarten, sondern kann auch fast jeden Tag Kärtchen aus aller Welt aus meiner Postbox fischen.

Hier möchte ich euch von meinen Erfahrungen nach acht Wochen des “Postcrossens” berichten.

Tokio, Queensland, Chemnitz: Einfaches Prinzip, maximale Freude

Gebe es das “Postcrossing” nicht, man müsste es erfinden. Das Prinzip meines neuen Hobbies ist ebenso simpel wie genial: 
Zunächst gilt es sich, auf der Plattform www.postcrossing.com zu registrieren. Namen aussuchen, bisschen was ins Profil schreiben, Adresse hinterlegen – zack, aus, feddisch! 

Besonders schön zu wissen, dass man mit dem neuen Hobby nicht alleine ist: Fast 750.000 Postkarten-Fans aus 217 Ländern dieser Welt haben sich über die Plattform bis heute bereits über 49 Millionen (!!) der bunten Kärtchen geschickt. 

 

Bevor nun aber der eigene Briefträger mächtig Arbeit bekommt, gilt es zunächst, andere Postcrosser aus allen Herren Ländern mit eigenen Karten zu beglücken. Maximal fünf Karten können anfangs auf den Postweg geschickt werden. Per Klick auf “Karte senden” wird per Zufallsgenerator eine Adresse von einem anderen Postkartenfreund angezeigt und eine ID generiert, die auf der Karte vermerkt wird und deren zweifelsfreier Zuordnung dient. 

Ich hatte mich also eingedeckt mit einem Stapel Grußkarten, geziert von den schönsten Motiven meiner Heimatstadt Frankfurt. Peter Feldmann wäre stolz auf meine Öffentlicharbeit! Briefmarken gibt’s im Zehnerpack, wobei mich sehr erstaunt hat, dass die Post die Karten für pauschal 90 Cent pro Stück auch in den letzten Zipfel der Erde transportiert! Wie verdienen die da eigentlich noch Geld? 

Einem jeden “Postcrosser” ist es selbst überlassen, was auch immer er auf die Karte schreiben mag. Ich habe meistens ein paar hard facts über Frankfurt verlauten lassen und beschrieben, weshalb ich “my lovely hometown” so verfallen bin. Dass die Sprache der “Postcrosser” Englisch ist, verwundert kaum – bei 248 vertretenen Nationen dürfte die Verständigung ansonsten ein wenig schwierig werden.

Sobald die ersten fünf eigenen Karten auf die große Reise geschickt sind, heißt es erstmal: Abwarten. Bis die eigenen Grüßen ihr Ziel in der Volksrepublik China, dem australischen Busch oder ein kleines Dorf am Baikalsee erreicht haben, fließt schließlich eine Menge Wasser den Main hinunter. 

Sobald die Post aber ihren Dienst getan und eure Karte dem jeweiligen Empfänger überreicht hat, registriert dieser sie anhand ihrer ID auf der Plattform. Dies ist der Moment, in dem eure Stunde geschlagen hat!

 

Nicht nur, dass ihr anhand einer Weltkarte visualisiert bekommt, welchen Weg eure Karte innerhalb welcher Zeit genommen hat – denn nun ploppt endlich auch eure Adresse irgendwo auf dieser Welt auf und wird einen unbekannten Menschen dazu veranlassen, auch euch eine Karte zu senden. Parallel dazu könnt ihr nun eine weitere Karte auf die Reise schicken. 

Erneut gilt es nun, sich in Geduld zu üben. Gut und gerne brauchen die Karten nämlich auch mal 2-3 Wochen, ehe sie ihr Ziel – euren Briefkasten! – erreichen. Wenn die “Maschinerie” aber erst einmal angelaufen ist, könnt ihr schon nach wenigen Wochen nicht nur täglich neue Karten versenden, sondern natürlich auch empfangen. Nach acht Wochen “Postcrossing” habe ich nicht nur der Deutschen Post ein immenses Umsatzplus beschert, auch hat sich eine beachtliche Menge bunter Kärtchen auf meinem Schreibtisch angesammelt. Vielleicht bastel’ ich sogar mal eine Collage draus?

Von pinken Flamingos, Kriegsschiffen und kryptischen Adressen: Herausforderungen und Erkenntnisse

Als “Postcrosser” habe ich nicht nur spannende Feststellungen treffen dürfen, sondern auch immer wieder Herausforderungen meistern müssen. 

Nie hätte ich beispielsweise gedacht, wie herrlich unkompliziert doch deutsche Adressen sind. Name, Straße, Postleitzahl, Stadt – fertig. In China aber beispielsweise folgen unaussprechlichen Straßennamen wie “JinJianJiaYuan” noch fünf weitere Zeilen mit Angaben von Provinz, Distrikt und Wohnblock, bevor irgendwelche Zahlenreihen wohl etwas ähnliches wie eine Postleitzahl darstellen und die Adresse schlussendlich nur mit Ach und Krach auf die Karte passt. 

Noch abenteuerlicher wird es, wenn Adressen aus kyrillischen Buchstaben bestehen und nicht abgeschrieben, sondern vielmehr -gemalt werden müssen. Ein Wunder, dass auch diese meiner Karten irgendwie ihr Ziel erreichten!

Amüsante Randnotiz: Die einzige meiner Postkarten, die ihr Ziel niemals erreichen sollte, ging nach: Chemnitz. No joke!

Immer wieder amüsiert bin ich indes über die Nachrichten, die mich mal leserlichen, mal recht krakeligen Buchstaben erreichen:

Peter aus Boston erläutert mir die Geschichte seiner Heimatstadt bis ins kleinste Detail, während Petr aus Tschechien das dortige Bier in höchsten Tönen lobt.

 

Auch einen Marienkäfer hat er auf seine Karte geklebt, möge er mir Glück bringen. Thankyousomuch. Melissa aus Queensland erzählt von ihrer Liebe zu Deutschland, wo es allerdings – im Gegensatz zu ihrer Heimat Australien – wo es ihres Wissens jedoch leider keine Wale gebe. Ihre Karte verziert sie sicherheitshalber mit einem Kätzchen-Aufkleber.

Lyo aus Tokyo lässt mich wissen, dass die Straßen der Megacity wirklich verstopft seien,  Lee aus Neuseeland beschwert sich über die anhaltende Hitze down under. “So, so hot!”.  Tylor ist nicht nur aus Texas, sondern auch “a psychedelic rock musician”, während Uta aus Finland pensionierte Lehrerin ist und Schäferhunde liebt. Ob es denn in Deutschland wirklich so lange hell sei? Anastasia aus Weißrussland wünscht mir “Peace, Love & Happiness”, Hans-Günter aus Gelsenkirchen ein stilechtes “Glückauf!”

Aber auch jede Menge nützliches Wissen wurde mir mittels Postkarte zugespielt. Matthias aus Thüringen beispielsweise schickte eine Postkarte aus dem Lichtetal und ließ mich wissen, dass dort der Kümmerling erfunden worden sei. Auch Giancarlo aus Italien wollte mich nicht dumm sterben lassen und verriet mir, welchen “Vino” ich trinken sollte – und welchen nicht. 

Klischees und Briefmarken 

Nicht minder spannend sind natürlich auch die Briefmarken, die in den unterschiedlichsten Ausführungen mit den unterschiedlichsten Werten verschiedenster Währungen bedruckt sind. Stempel bezeugen das entrichtete Beförderungsentgelt und lassen nicht nur das Herz von eingefleischten Philatelisten höher schlagen. 

Während die Briefmarken der Deutschen Post, welche ich erwarb, zumeist von Blümchen und Blüten geschmückt waren, erreichte mich aus den einzelnen Nationen ein buntes Potpourri verschiedenster Marken.

Immer wieder zum Schmunzeln gebracht hat mich dabei der Umstand, dass die Marken oft tatsächlich gewisse Klischees bedienen:

 

So kommen “stamps” aus den USA beispielsweise selten ohne den obligatorischen Schriftzug “America first!” aus. Ebenfalls aus den Staaten stammt eine Marke, welche von einem Soldaten geschmückt wird: “In memory to our fallen soldiers!” Soll aber bloß niemand die USA auf Soldaten, Krieg und Patriotismus reduzieren: Eine Karte aus Kalifornien ist gleich dreifach mit Marken bepflastert, die Muscheln und anderes Meeresgetier zeigen.

Auch Russland verleiht offensichtlich gern dem militärischen Stolz auf Briefmarken Ausdruck: Kriegsschiffe schmücken die Briefmarken, die gut ein Drittel der Karte von Vladimir bedecken.

“Par Avion” – einige der Stempel darauf verstehe ich noch, die meisten aber bleiben aufgrund ihrer kyrillischen Botschaften ein Mysterium für mich.

 

Auch die Briefmarke von Anastasia aus Moskau bedeckt ein gutes Drittel der Karte, welche sie noch mit funkelnden Sternen beklebt hat. Dass drei meiner vier bisherigen Korrespondenten aus Russland den Namen “Anastasia” tragen, ist eine weitere Tatsache, die mich aus Gründen der Klischee-Erfüllung zum Schmunzeln bringt. 



Das perfekte Hobby für die grauen Tage

Habt ihr nicht auch schon aus den Fenstern eurer teuren Wohnungen geschaut und euch angesichts des grauen Himmels gefragt, was ihr mit eurer Zeit anstellen sollt? “Postcrossing” könnte auch für euch eine Antwort auf diese Frage sein, lassen sich (ich weiß, wovon ich rede!) Postkarten doch auch ganz vorzüglich im Bett schreiben. Ja, es dauert ein wenig, bis die ersten eigenen Karten erst einmal angekommen sind und Früchte in Form von bunten Überraschungen in eurem Briefkasten tragen. 

Ist das System aber erst einmal “warmgelaufen”, so dürft ihr euch aber recht bald über fast tägliche Post freuen.

Ist nicht jede Rechnung gleich viel erträglicher, wenn sie von drei bunten Kärtchen mit Motiven und handschriftlichen Grüßen aus aller Welt flankiert werden?

Ich jedenfalls bin froh, dieses Hobby für mich entdeckt zu haben. Und wenn auch ihr jetzt so richtig Bock bekommen und den Füller schon gezückt habt, dann scheut nicht, euch anzumelden und dem Kreis der Postcrosser beizutreten! Bis dahin verbleibe ich mit dem internationalen Gruß aller Gleichgesinnten: 

“Happy Postcrossing!” 

“Leben im Konjunktiv”: Eine Kurzgeschichte für graue Tage

Wenn sich Äste im Wind biegen und nasskalter Regen gegen die Scheiben klatscht, ist es an der Zeit, der Welt da draußen den Mittelfinger zu zeigen und sich in diejenige der Buchstaben zu flüchten. Findet ihr nicht auch? 

Ich jedenfalls habe die ersten Herbsttage dazu genutzt, Phantasie und Gedanken kreisen ein wenig kreisen zu lassen. Herausgekommen ist eine Kurzgeschichte, die hoffentlich auch euch ein wenig Unterhaltung an tristen Tagen bietet. 

Viel Freude beim Einkuscheln,  Lesen und Sinnieren! 


Der Anblick der weißen Decke über mir hat sich längst in meine Netzhaut eingebrannt, auch das Summen der eigenartigen Maschine zu meiner Linken nehme ich kaum noch wahr. Gedanken lullen mich ein, und ich wünschte, die andere weiße Decke würde es ihnen gleichtun. Stattdessen liegt sie auf mir wie ein Fremdkörper, weigert sich standhaft, sich meinem Körper auch nur einen kleines Bisschen anzuschmiegen. Das kam wohl dabei raus, wenn man Wäsche steifte. Oder sollte etwa Ich der Fremdkörper in diesem Bett sein?

Vielleicht war es tatsächlich so, vielleicht würde sich die Decke tatsächlich einer jeden Pore anpassen, würde sanft verschlucken, bedeckte statt meines einen anderen Körper. Vielleicht, da hab‘ ich einfach Pech gehabt. Schließlich war ich doch nur haarscharf daran vorbeigeschrammt, ein anderer Mensch zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich wurde, wer ich bin, war schließlich mikroskopisch klein: Nur eine Einzige von 300 Millionen Spermien konnte das Wettrennen zu einer kleinen Eizelle gewinnen, konnte im Urknall allen menschlichen Daseins meine Genetik beschließen, endlose DNA-Ketten zu meiner Existenz verweben. Dass ich letztlich nicht als eines von 299.999.999 anderen Individuen das Licht der Welt erblickte, war nichts als Zufall. Nach aller Regel der Wahrscheinlichkeit wäre ich jemand völlig anderes geworden.

In einem Anfall innerlicher Unruhe drehe ich mich nach rechts. Ich will die weiße Decke nicht mehr sehen, will die gestärkte, weiße Decke nicht mehr fühlen. Lieber starre ich auf den leeren Besucherstuhl neben meinem Bett. Schmerz durchfährt mich, der Verband um meinen Kopf macht die kleinste Bewegung zur Qual. Ich presse meine Kiefer aufeinander und denke nach. Wie wäre mein Leben wohl verlaufen, wäre aus der Trommel der Fortpflanzungslotterie einer von fast dreihundert Millionen Anderen gezogen worden? Wäre dieser Mensch mir ähnlich, zumindest hier wie dort? Würde er meine Sehnsüchte teilen, dieselben Gedanken denken? Würde genau dann lachen oder an Nichtigkeiten verzweifeln, wenn auch ich es täte? Oder aber wäre er all das, was ich nicht war – ein Negativbild meiner selbst?

Hätte auch er damals im Bett gelegen und an die Decke seines Kinderzimmers gestarrt? Hätte auch er von der großen Freiheit geträumt, während er zum tausendsten Mal die Astlöcher der Holzbalken über ihm zählte? Jener großen Freiheit, die er endlich atmen würde, wenn er erst einmal sein Elternhaus verlassen hätte? Hätte auch dieser jemand Andere sich immer wieder ausgemalt, wie schön erst alles würde, wären seine Fesseln erst gesprengt? Ja, hätte auch er Rebell gespielt, sich grundlos mit seinen Lehrern angelegt und keine Provokation ausgelassen, weil er doch nichts mehr hasste als die Schule? Hätte auch er sich von niemandem verstanden gefühlt, am wenigsten von seinen Eltern? Hätte auch er den Tag herbeigesehnt, an dem er Schule und Elternhaus den Rücken würde, jener Stunde Null, in der sein wahres Leben beginnen würde, in der aus dem „Wollen“ ein „Sollen“ würde? Hätte auch er, bevor er abends einschlief, sich selbst als jungen Adler vorgestellt, der im Horst saß und darauf lauerte, seine Flügel auszubreiten?

Hätte auch er irgendwann sein Abitur gemacht, mehr schlecht als recht? Allein, um dieses Studium zu beginnen, für das er in diese fremde Stadt gezogen wäre? Jenes Studium, für das er sich allein deswegen entschieden hätte, weil der Numerus Clausus ihm keine andere Wahl gelassen hatte? Wäre auch dem Anderen jedes Mittel recht gewesen, um seinem Heimatdorf den Rücken zu kehren – selbst die Lehre der Betriebswirtschaft? Hätte auch er während der vielen Stunden im Auditorium keinerlei Leidenschaft verspürt, hätte einen subtilen Hass auf all die Zahlen, Graphen und Funktionen entwickelt? Hätte er auch er nur mühsam seinen Frust hinunterschlucken können, während er am späten Abend in der Bibliothek an seinen Hausarbeiten schrieb? Und hätte auch er sich dennoch tapfer durchgebissen, sich wieder und wieder vor Augen geführt, dass dieses gottverdammte Studium nun einmal die Basis seiner ersehnten Unabhängigkeit sei? Ein solides Fundament für seinen Glückspalast, gegossen in tiefschwarzem Beton des Fleißes, von Stahlstreben der Hartnäckigkeit durchzogen? „Ohne Fleiß kein Preis“: Hätten auch dem Anderen die Worte seines Vaters in den Ohren gehallt? Hätte auch er tatsächlich geglaubt, alles was ihm fehle, sei ein verfickter metaphorischer Grundstein?

Mein Nacken schmerzt, ich spüre ein Brennen hinter meiner Stirn. Das Jetzt, ich will es nicht, ertrag’ es nicht, nicht jetzt. Lieber drehe ich mich auf meine Seite und denke an das Damals. Schließe meine Augen und stelle Hypothesen auf. Hätte ich auch als jener andere Mensch, der ich doch fast geworden war, diese einsamen Momente zwischen Vorlesungen und biergetränkten Erstsemester-Partys erlebt? Die Stunden, in denen ich auf der Matratze meines Wohnheimzimmers lag und die Geborgenheit meines Elternhauses vermisste, der ich doch immer nur entfliehen wollte? Wäre ich genauso bald den Verheißungen der Nacht erlegen, um meinem Gefühl der Einsamkeit zu entfliehen? Hätte ich endlich den Mut besessen, eines der hübschen Mädchen an der Theke anzusprechen? Oder aber hätte dieser Anderer genauso sehr darunter gelitten, wieder und wieder alleine nach Hause zu gehen? Hätte auch er irgendwann damit begonnen, sich einzureden, dass ihm schlicht ein wenig Rock‘n‘Roll fehle? Dass er seiner Lockerheit nur ein wenig auf die Sprünge helfen müsse, dann würde das schon werden mit den Mädchen? Wäre auch er permanent nah am Wodka gebaut gewesen, hätte auch er sich dieses lächerliche Tribal stechen lassen? Hätte auch seine Nase gekitzelt, als er sich zum ersten Mal in der Toilette eingeschlossen hatte und das weiße Zeug vom Spülkasten zog?

Der Schmerz, den ich fühle, ist nun ein anderer. Vergilbte Erinnerungen legen sich über das Gemetzel hinter meiner Stirn, sepia-farbene Momentaufnahmen. Zwei Semester, verbracht in einem schweißgetränkten Vakuum zwischen Rausch und Kater. Das böse Erwachen, die Frauengeschichten meiner Kommilitonen, die trotz Rock‘n‘Roll und weißen Linien noch immer allein die meiner Kommilitonen waren. Dieser graue Tag im Januar, an dem ich in einem verdreckten Spiegel eines nochmals verdreckteren Gemeinschaftsbadezimmers den Grund all meines Unglücks zu erkennen glaubte. Der Kniff in meine Backen, zwei Digitalziffern auf einer verstaubten Waage als Gradmesser meiner Hässlichkeit. Das straffe Sportprogramm, das ich mir auflegte. Jene fatale Diät, die mir mit jeder verbrannten Körperzelle ein größeres Gefühl der Stärke gab. Hätte ich auch als ein Anderer geglaubt, die Maßeinheit für Glück sei Kilogramm? Dass er, wenn er nur zehn davon verlöre, endlich begehrt sei? Die Gänsehaut auf meinem Rücken, als ich die siebzig Kilo knackte.

Der süße Geschmack des Triumphs. Die ersten Komplimente. Absolute Kontrolle. Nichts als Leere hinter einem ausgemergelten Gesicht. Die Sache schien so klar, dann galt es eben nochmals zehn weitere Kilogramm meines Körpers zu zerstören. Dann aber, ganz sicher, würde der verbliebene Rest begehrt werden, dann flögen mir die Mädchenherzen zu. Als die schwarzen Balken der ersten Ziffer auf der Waage eine Fünf formten, fühlte ich längst nichts mehr. Und dennoch hungerte ich weiter, bis nur noch ein Vorgeschmack des Todes auf meiner Zunge lag.

Die viel zu späte Einsicht, dass ich mich zugrunde richtete. Die plötzliche Überzeugung, allein mein Umfeld trüge die Schuld an meiner Misere. Die Überzeugung, wohl einfach nicht gemacht zu sein für ein Studentenleben. War ich nicht ohnehin für Höheres bestimmt? Ja, wenn ich erst einmal meinen Abschluss in der Tasche hätte, wenn ich diese spätpubertären Spielchen nicht mehr spielte, dann, ja dann, wäre das Glück auf meiner Seite. Ich würde Geld verdienen, Karriere machen, morgens in einer, meiner, Wohnung aufwachen. Ein Loft, vom Sonnenschein geflutet wie auch mein restliches Dasein. Die Welt, sie stünde mir offen und wartete auf mich. Ich würde auf Reisen gehen, würde Frauen in kurzen Kleidern in den besten Bars der Stadt von meinen Abenteuern berichten. Hatte ich nicht bereits in meiner Vorstellung ihre Hände auf meinen Oberschenkeln spüren können? Nein, wir würden nicht getrennt nach Hause fahren.
Noch einen Martini, bitte. Sparen Sie sich die Olive.

Nächste Szene. Ein hässlicher Hut, für ein dämliches Bild in Richtung Himmel geschleudert. Eine letzte Blamage, tapfer ausgestanden, im Gesicht ein falsches Lächeln. Graduation, Gratulation, Absolution. Nun war alles ausgestanden, nun war ich neu geboren und doch schon 23. Meine Welt, sie würde eine andere sein, kaum dass der schwarze Hut den Boden berührte. Wäre auch der Andere, der ich fast geworden wäre, diesem Trugschluss aufgesessen? Hätte auch er fortan zahllose Nächte damit verbracht, Bewerbungen zu schreiben, hätte auch er Umschläge geküsst, bevor sie in gelbe Kästen warf? Hätte auch er sich im Spiegel bewundert, als er sich seinen ersten Anzug kaufte, „ja, der steht Ihnen ganz wirklich ganz ausgezeichnet!“? Hätte auch er tatsächlich geglaubt, die „Stunde Null“ stünde nun kurz bevor?

Das Geräusch einer sich öffnenden Tür schleudert mich unvermittelt zurück ins Jetzt, die Diashow in meinem Kopf weicht leisen Stimmen. „Er schläft“, murmelt eine Stimme, „sieht nicht gut aus“, eine andere. Einen Spalt breit öffne ich meine Augen, hinter den Besucherstühlen fließen weiße Hosen in weiße Wände über. Ich lasse meine Lider fallen, statt Weiß ein helles Rot, bevor ich zurück im Schwarzen bin.

Verhüllt in Dunkelheit die Frage,
was, wenn mein Dasein formatiert
was, hätten einst die Gene
einen andren Mensch kreiert?

Dächte er meine Gedanken
wär vom selben er berührt
teilte er meine Gefühle
wär‘ das Gleiche ihm passiert?

300 Millionen Leben, die ich statt meinem hätte führen können. Hätte ich auch in einem anderen geglaubt, ein Klecks von feuchter Tinte unter dem Arbeitsvertrag sei gleichbedeutend mit dem großen Glück? Wie lange hätte ich mich am Ziel gewähnt, während ich morgens noch einen Spritzer des teuren Parfums auf meinen Hals sprühte und mich auf Budapestern den Weg zur Arbeit machte? Wie lange hätte es gedauert, bis ich begreifen sollte, dass in dieser Firma niemand auf mich gewartet hatte? Dass ich nichts als ein austauschbarer Idiot unter vielen war? Hätte ich als auch ein Anderer all meine Sehnsüchte einem verfickten Job auffressen lassen?

Und hätte ich mir dennoch immer wieder eingeredet, dass sich all die Überstunden, die ich zähneknirschend schob, eines Tages auszahlten? Weil vor dem Begehren doch stets das Bewähren stünde? Säße ich auch so oft noch am Schreibtisch, während draußen die Dunkelheit längst einen schwarzen Schleier über die Häuserschluchten legte? Hätte genauso auf die Lichter der Straßen unter mir gestarrt und mich der Illusion hingegeben, dass sich schon ganz bald alles zum Guten drehen würde? Glaubte ich die süßen Früchte meiner Arbeit nicht schon vor meinen Augen, mit denen ich meinen Lebenshunger endlich stillen würde?

Stattdessen aber war da nur der wässrige Salat in der Kantine, den ich lustlos in mich hineinfraß. Da waren die Magazine, die ich in den kurzen Mittagspausen hastig durchblätterte. Die Bilder dieser Reportage aus Südamerika, die mich in ihren Bann zogen. Der Traum, sie statt auf Hochglanzbildern mit eigenen Augen zu sehen, hätte ich doch erst Zeit und Geld genug. Zeit und Geld: Scheiterte nicht ohnehin immer alles daran? War es da nicht nur logisch, mich mehr denn je in die Arbeit zu stürzen, bis mich eines Tages dann tatsächlich mein Vorgesetzter in sein Büro zitierte?

Sepia-Filter, Champagner aus der Flasche. Den Karrieresprung galt es zu begießen. Nun aber, endlich, da war ich mich dir doch so sicher, würde ich meine Träume leben. Nun gab es keine Astlöcher mehr zu zählen, nun würde ich zum Zuge kommen. Ein kräftiger Händedruck vom Immobilienmakler, ein Bund Schlüssel für die Maisonette-Wohnung in ach so begehrter Lage.

Hätte einer jener 300 Millionen sich nach der wilden Einweihungsparty endlich glücklich gefühlt? Oder hätte auch er die kurzen Nächte damit verbracht, sich schlaflos im neuen Doppelbett umher zu wälzen? Hätte auch er hinüber zur leeren Hälfte gestarrt, wäre irgendwann, in die Küche gegangen und Whiskey über Eiswürfeln fließen lassen?

Hätte der Andere begriffen, warum sich unter dem glatt gegelten Scheitel noch immer bloß eine Hoffnung auf das Werden statt einer Liebe für das Sein verbarg ? Hätte auch er auf diesen einen Menschen gewartet, mit dem er gemeinsam die Anden erkunden würde – statt drei Mal mit der Maus zu klicken und diesen Flug zu buchen? Hätte auch der Andere den Rauch von mehr als siebzigtausend Zigaretten in seine Lungenflügel strömen lassen, bis er erschrocken feststellte, wie wenig Rock’n’Roll der übervolle Aschenbecher vor ihm doch versprühte? Hätte auch er sich vorgenommen, endlich mit dem Rauchen aufzuhören, jedenfalls bald, wenn all der Stress erst einmal abflaute und einer Brise Sorglosigkeit gewichen wäre? Hätte auch der Andere sich noch einen Whiskey eingegossen, während er durch Feeds und Timelines scrollte und sich fragte, wann auch er in bunte Quadrate verpacktes Lebensglück posten würde? Ja, hätte jener Andere überhaupt gewusst, welch Mensch sich hinter seinen Profilen auf Xing und Instagram verbarg?

Hätte auch dieser andere Mensch weit nach Mitternacht italienische Lederschuhe über die Dielen geschleudert? Würde er sich, kaum dass die Wohnungstür geschlossen war, die gestreifte Krawatte vom Hals reißen und voll Abscheu in die Ecke werfen? Würde er sich genauso oft noch eine Dose Bier auf dem Kühlschrank greifen und sich schwören, dass all das hier bald ein Ende haben würde? Spürte auch er noch immer das Gefühl des 15-jährigen Rebellen in sich, wenn er sich die Kopfhörer aufsetzte und KORN hörte, so wie damals?

All the fucked up feelings again
The hurt inside is fading
This shit’s gone way too far
All this time I’ve been waiting

Warten, warten, warten. Wie oft kam es mir so vor, als hätte ich eine Nummer gezogen, die niemals aufgerufen würde? Wie oft ließ ich mich erschöpft auf dieses Sofa fallen, auf dem ich wenig später einschlief? Wie oft träumte ich dann von dieser Fahrradtour, die ich doch ganz sicher schon bald machen würde, wenn nur endlich dieses wichtige Projekt gestemmt wäre? Einmal den Main entlang, von der Quelle bis zur Mündung. Vorbei an den Ufern, an denen ich nie entspannen konnte. Nichts als der Fluss und ich… Wie oft meinte ich den Fahrtwind im unruhigen Schlaf schon im Gesicht zu spüren, während drei Stockwerke tiefer die Staubschicht auf dem teuren Rennrad beständig wuchs?
Hätte, hätte, Fahrradkette…

Ein bitteres Lächeln umspielt meine Lippen, während ich an mein Fahrrad denke.
Noch immer wage ich es nicht, meine Augen zu öffnen. Ich fühle mich traurig in der Dunkelheit und dennoch wohl, denn immerhin FÜHLE ich etwas. Wann hatte ich das zuletzt eigentlich getan – etwas zu fühlen?

Wieder einmal der Andere. Hätte auch er an meiner Stelle so lange nichts mehr empfunden? Hätten andere überhaupt etwas für IHN empfunden? Hätte es auch in seinem Leben jenes Mädchen gegeben, das ihn mit rotem Kopf um seine Handynummer bat? Hätte auch er sich wieder und wieder mit ihr getroffen, hätte kaum glauben können, dass sie es tatsächlich ganz aufrichtig und gut mit ihm meinte? Hätte er ihre Liebe erwidern können? Oder hätte auch er sie hingehalten und vertröstet, Ein ums andere Mal? Weil da draußen in der weiten Welt, doch ganz sicher irgendwann und irgendwo doch sicher dieser eine Mensch sein musste, der noch viel besser zu ihm passte und ihm noch so viel mehr zu geben hatte?

Hätte auch er sie schlussendlich abserviert und jeden aufblitzenden Moment der Reue im Rausch der Arbeit erstickt? Hätte auch er zentimeterdicke Stapel von Papieren mit seiner teuren Kamera beschwert, mit der er doch eigentlich seine Reisen festhalten wollte?

Ich schlucke. Eine Schlinge aus Stacheldraht in meinem Kehlkopf beendet meine Gedankenspiele. Nein, es gab da keinen Anderen. Die fast dreihundert Millionen Alternativen meiner selbst waren schon wenige Minuten nach einem Samenerguss gestorben, waren Möglichkeiten geblieben. ICH war es, der das Licht der Welt erblickte. Ich allein hatte alles so geschehen lassen. Ich bin es, der doch so gern in einer Partei beigetreten wäre, wenn ich mich nur endlich entschieden hätte. Ich allein bin derjenige, der so gerne einfach mal ein Buch gelesen hätte, wenn ich nur dasjenige gefunden hätte, dessen Lektüre keine Zeitverschwendung darstellte. Ich allein bin es, der seinen Eltern gern gesagt hätte, wie sehr er sie liebe, wenn er sie doch nur einmal wieder besucht hätte. „Es ist wie es ist“, sagt der Resignierte. „Was wird sein?“, fragt der Neugierige. Ich dagegen spiele „Was wäre wenn?“, während ich darauf warte, dass der Schmerz aus meinen Gliedern strömt.

Ich fühle mich sicher in meiner Paraderolle. War ich nicht schon immer ein Meister des Wartens? Warten auf mehr Zeit, warten auf mehr Geld, warten auf das richtige Umfeld, warten auf den perfekten Moment, warten auf den wunderbarsten aller Menschen. Ich wünschte, ich hätte mir einfach einmal die Zeit genommen, statt sie mit dem Warten zu verbringen. Ich wünschte, ich hätte einfach mal gemacht statt lediglich zu überlegen. Ich wünschte, es wäre nicht immer gerade irgendwie schlecht gewesen. „Hier ruht der, der intensiv gelebt hätte – hätte er nur erst einmal…“: Ich wünschte, andere Worte würden meinen Grabstein zieren. Ich wünschte, ich hätte die Liebe dieses Mädchens einfach erwidern können.

Vielleicht, da wachte ich dann längst neben ihr statt neben leeren Weinflaschen auf. Vielleicht lebte ich nicht mehr in dieser teuren Maisonette-Wohnung, in der ich doch eigentlich nicht einmal lebte, in der ich doch eigentlich nur erschöpft war. Vielleicht lägen im Flur auch keine italienischen Lederschuhe mehr verstreut. Vielleicht, da tobten im Flur unsere Kinder. Vielleicht wäre mein Kontostand geringer, vielleicht die Wohnung kleiner. Dafür aber wäre ich vielleicht auf einem Gebrauchtfahrrad den Main hinab gefahren, hätte vielleicht ein Zelt in den Anden aufgeschlagen.

Vielleicht hätte ich längst dem Rauchen aufgehört, vielleicht würde mich gar zumindest gelegentlich vor Mitternacht der Schlaf ereilen. Vielleicht wäre ich dann auch nicht wieder einmal zu spät dran gewesen, heute Morgen auf dem Weg zur Straßenbahn. Vielleicht hätte ich noch einmal nach links geblickt, bevor mich der Kühlergrill ergriff und mein Schädel auf dem Asphalt prallte. Vielleicht, da wäre statt Blut ein zielstrebiger Mann die Straße hinabgelaufen.

Laufen wie die Tränen über meine Wangen. Ich reiße meine Augen auf giere nach Luft. Fantasiere ich? Auf einem der Besucherstühle sitzt ein alter Mann, sein Bart reicht ihm bis zur Brust. Sein Gesicht ist eingefallen, er scheint in seinem Leben viel Zeit mit dem Warten verbracht zu haben. Auf eigenartige Weise kommt mein Besucher mir bekannt vor, doch komme ich nicht darauf, woher meine Vertrautheit rührt. Ich starre in ein müdes Augenpaar;  kraftlos erwidert er meinen Blick. Unentschlossen hebt er seine Schultern. „Guten Tag“, flüstert der Greis. „Ich bin der Konjunktiv. Ich habe dich dein ganzes Leben lang begleitet.“ Sekunden vergehen, bis ich verstehe. Er ergreift meine Hand, bevor er seine Stimme hebt: „Was, wäre dies das Ende?“

Dann wird alles dunkel.

Texte, Trinkhallen & Treten: Mit der “LiterRadTour” unterwegs

Leidenschaften zu haben ist gut. Leidenschaften miteinander zu verbinden ist besser! Insofern bin ich fast ein wenig verärgert darüber, dass mir eine wahrlich grandiose Idee vorweggenommen wurde….

Aufmerksame Mainrausch-Leser wissen natürlich längst um meine Vorliebe für Fahrradtouren, Literatur und Wasserhäuschen. Was also sollte schon näher liegen, als diese wesentlichen Aspekte meines bescheidenen Daseins zu kombinieren? Eben. 

Ärgerlicherweise – ich habe es erwähnt – kamen mir einige helle Köpfe der Jugendmigrationsdienste im Quartier Gallus kurzerhand zuvor, in dem sie in Zusammenarbeit mit dem Stadtbiotop Offenbach sowie die astreinen Jungs des Wasserhäuschen-Fanclubs Linie 11 eine – Achtung, Wortspiel! – LiteRadTour ersannen.

Texte treffen aufs Trinken, Rhetorik trifft aufs Radfahren, so das Motto der Veranstaltungsreihe für das breite Volk. Nach drei Versuchen, welche vollends an mir vorüberzogen, gelang es den Initiatoren beim vierten Anlauf, mich auf die nächste bevorstehende Radtour mit Zwischenstationen in Form von poetischen Darbietungen aufmerksam zu machen. Die Künstler des Tages: Jan Cönig und Raban Lebemann vom gleichnamigen Duo, außerdem der mir bis dato unbekannte Gax Axl Gundlach. Außerdem, als Krönung des Ganzen: Jey Jey Glünderling, mit Preisen quasi überschütteter Meister des Poetry Slam. Seine Texte hab’ ich schon immer sehr gefeiert (sagt man heute so!), kurzum: Ich war vom Rahmenprogramm vollends überzeugt.Ein heißer Sonntag im August 2018 soll zum Tage des Spektakels werden. Und dieses Mal -endlich-endlich!- bin auch ich mit von der Partie. Als Otto-Stinknormal-Teilnehmer, wie schön, auf der Bühne habe ich selbst schließlich erst am vergangenen Sonntag gestanden. Einfach mal berieseln lassen: Nice! 

Ziemlich nice auch, dass ich ich eine bezaubernde Begleitung gefunden habe, die sich mit mir auf zwei Rädern auf den Weg mitten hinein ins Herz Frankfurts verzogener, kleiner Schwester macht: Offenbach. Offenbach, das meint man gar nicht, ist -rein räumlich betrachtet- tatsächlich an manchen Stellen lediglich eine nahtlose Fortsetzung des Frankfurter Stadtgebietes. Wir sind schnell da, just-in-time, ja, auch Offenbacher Straßenzüge haben ihre Tücken.

Erster Akt: Ein Marktplatz ohne Markt

Kaum haben wir den Treffpunkt erreicht und unsere Zweiräder verschlossen (in Offenbach weiß man ja nie!), müssen wir uns arg wundern. Einen “Marktplatz”, den hätten wir uns, nun ja, anders vorgestellt: Keine Spur von Marktbuden und freundlich dreinblickenden Damen in grünen Kittelschürzen, welche mit einem herzlichen Lächeln im Gesicht den Bund Möhren überrascht.

Auch von eher halbseidenen Geschäften keine Spur, keine bösen Gesichter hinter Sonnenbrillen, keine Plastiktütchen. Verdammt, wird an Offenbacher Marktplätzen überhaupt irgendwas gehandelt? Stattdessen: Betongraue Tristesse, eine KFC-Filiale, und eben: Die Literaten, umringt von ihrer etwa dreißigköpfigen Zuhörerschaft. Und eben uns.

“Schön, dass ihr da seid!”, oha, es geht los. Eine junge Vertreterin des Offenbacher Stadtbiotops begrüßt die Angereisten, ja, man habe sich bewusst für diesen Ort entschieden. Das durchaus unterstützenswerte Ansinnen der Initiative sei es schließlich ausdrücklich, auch trostlose Orte wie diesen hier zu bespielen, mit Leben zu füllen. Und dann geht’s auch schon los!

Jan Cönig spricht zuerst ins Mikrofon, seine durch einen tragbaren Verstärker potenzierte Stimme lockt erste Schaulustige an. Es folgt ein Text seines Partners Lebemann, er referiert über die Ernährungsgewohnheiten der Generation Instagram. “Gax” Axel Gundlach gelingt es anschließend, eine Spur Tiefsinn auf dem grauen Pflaster zu versprühen. Bühne frei für Jey Jey Glünderling, ja, selbst an diesem unwirtlichen Ort weiß er sich als Kunstfigur zu inszenieren. “Wie nennt man man ein kiffendes Känguruh?”, versucht er sich zunächst an einem kleinen Kalauer und lässt die Antwort nicht lange auf sich warten: “Grashüpfer!” Erwartungsgemäß, so soll es bei Kalauern schließlich sein, lacht niemand. Mir entweicht dennoch ein kurzes Kichern, “hat ein bisschen gedauert, was?”, fragt der Poet in meine Richtung. In gewohnter Manier – folglich ziemlich laut, wofür hat der Kerl eigentlich ein Mikrofon?, knüpft er seinen eigentlichen Text an. Nun lachen alle, der Kerl versteht sein Handwerk.

Ein zu uns gestoßener Passant weiß nicht nur jedes Offenbach-Klischee zu erfüllen, sondern scheint dagegen eher weniger von Sinn und Zweck der Veranstaltung zu verstehen. “Poetry? Ey, hab’ ich nie was von gehört, nee, nich’ so meins, Bruder!” Wer schon hätte das gedacht. Zeit für einen Ortswechsel. Ein Becher Kaffee für den Weg, nächster Halt: Dreieichpark. An den Ort, an dem sich Welse ihrer Artgenossen entledigen und Sommerlöcher füllen. Wir sind gespannt und treten in die Pedale.

Zweiter Akt: Barocke Tempel treffen  Freestyle-Skills

Ein knapper Kilometer später, der Kaffee blubbert in meinem Magen. Wir haben den Dreieichpark erreicht, ein Sommertag in Offenbach, Kinder toben und schreien, wir suchen Schutz unter dem Dach des barocken Pavillons. Dieser ist -ganz klar, Offenbach!- natürlich videoüberwacht, vielleicht finden ja hier diejenigen Geschäfte Stadt, welche man auf dem Marktplatz verortet hätte. Wir versammeln uns im Halbkreis um die Literaten, erste Bier- und Wodkaflaschen werden umhergereicht. Scheint in literarischen Freundeskreisen üblich, da kann ich mich als Autor nicht einmal ausklammern. Bleibe aber, so beschließe ich, vorerst dennoch bei ‘ner kalten Cola Light.

In bekannter Reihenfolge gibt’s was auf die Ohren und zum Denken, zuletzt betritt Glünderling die Bühne, welche keine ist. Er verliest seinen Text über einen recht unbeliebten Schüler, schnell erkenne ich ihn wieder – ist dieser doch bereits in Jey Jeys Erstlingswerk veröffentlicht. Der Text beginnt recht harmlos, entwickelt sich aber nach recht radikalem Umbruch zu einer wahnwitzigen Werbung für Scientology. Nicht, dass der Autor das ernst meinen würde, doch versteht er es eben auch auf improvisierten Bühnen, so richtig auszurasten: “Werde Teil von Scientology!”, am Ende spricht er nicht, er schreit. So laut, dass auch ein -abermals jegliche Klischees erfüllender- Parkbesucher sich erschreckt umdreht. Etwas verstört mustert er unsere Versammlung und beginnt zu schimpfen. “Entspann’ dich mal, und komm’ auch du zu Scientology!”, ruft Glünderling ihm zu. Die Zuhörer lachen, der Offenbacher nicht. Er zieht von dannen.

Bevor wir allerdings von dannen ziehen, gibt’s allerdings noch ein wenig Freestyle-Rap der Künstler. Ich kenn’ das schon als Einlage von “Wir müssen reden, Frankfurt!”, auch dieses Mal bin ich angetan vom Improvastionstalent der Jungs. Auf vom Publikum ein- beziehungsweise nicht eingeworfene Stichwörter (na gut, nehmen wir halt ‘Stille’!”) mal eben einen Sprechgesang zu fabrizieren- Chapeaux!

Rucksäcke werden gepackt und Fahrräder bestiegen, denn: Wir ziehen weiter. Zurück nach Frankfurt, home sweet home, nächster Halt: Gallusviertel. Noch ehe wir die Oberräder Wiesen erreichen, hat sich die vormals dreißigköpfige Gruppe verloren, was soll’s, sind ja alle groß. Am Mainufer versuchen wir geflissentlich, Passanten einen tödlichen Ausgang ihres Sonntagsspazierganges zu ersparen, passieren das Heizkraftwerk West, und erreichen: Irgendwann doch unsere nächste Station: Die Trinkhalle Kölner Straße, “hart-klassisch” gemäß der amtlichen Trinkhallen-Definition meiner Freunde der Linie 11.

Dritter Akt: Von Verlorenen und Kirschlikör

Irgendwann erreichen wir dann doch noch die berüchtigte Trinkhalle. Auch hier die Drahtesel besser mal angekettet. Gundlach ist schon vor uns im Gallus angekommen, zählt aber nicht, statt mittels Velo war er mit Motorroller unterwegs. “Reifen war platt!”, entschuldigt er sich. Wir freuen uns über die Vollzähligkeit der Künstler. Eine Vollzähligkeit, wie man sie von den Zuhörern nicht behaupten kann: Die einst dreißig Teilnehmer haben sich kurzerhand halbiert. Was ihnen innerhalb der letzten Dreiviertelstunde zugestoßen sein mag? Darüber lässt es sich nur mutmaßen.

Doch zuerst gilt es sich zu erfrischen, meine adrette Begleitung und ich mustern die Auslage der Trinkhalle. “Höhö”, sag’ ich, “schau’ mal da: Kirschlikör!”. Kurz liebäugeln wir mit Eierlikör, entscheiden uns dann dennoch zum Kauf. Tarnung ist alles, das weiß man auch im Gallus – es gilt nun galant, den Inhalt der kleinen Likörflasche in einer unverdächtig wirkenden Cola-Flasche zu versenken.Nicht namentlich zu nennende Teilnehmer und Künstler geben sich da weitaus unverschämter: Nicht mal sechs Uhr abends, abermals machen Bier-, Club-Mate- und Wodkaflaschen die Runde. Cheers, Gallus – und: Bühne frei!

Cönig berichtet von seinen fingierten Erlebnissen als Treppenlift-Fahrer und Kindergeburtstags-Clown. Glünderling kotzt sich aus über die geschlechtsspezifischen Benachteiligungen der Herrenwelt im Hochsommer, zwischen den Zeilen plädiert er aber für ein frei von Hochglanz-Magazinen geprägtes Schönheitsideal. I like!

Gundlach startet was dadaistisches, was genau, vergesse ich schnell. Dadaismus war noch nie so Meines, dafür aber Trinkhallen – respektive die bunte Vielfalt der Frankfurter Wasserhäuschen-Szene.

“Ey, lest hier mal bloß nix vor!”, ein Kerl im Unterhemd ist offensichtlich kein Freund der lokalen Literatur. Was soll’s, ich nippe an meiner mit Kirschlikör aufgemotzten Cola. Schmeckt gar nicht mal so übel – dass es immer noch erst früher Abend ist, ignoriere ich dabei geflissentlich. Am Sonntag ist das legitim, lasse ich mich von der jungen Frau zu meiner Rechten belehren.

Nur schweren Herzens lösen wir uns aus unseren Trinkhallen-Stühlen, einmal noch aufs Rad, die Endstation für heute ist nicht weit: Die Quäkerwiese, grünes Einod des einstigen Arbeiterviertels.

Vierter Akt: Speed-Dating und schwarze Löcher

Nur einen Katzensprung später, die Räder sind verschlossen, eine Mauer bietet eine Sitzgelegenheit, die wir dankbar annehmen. Schnell haben sich die Autoren eine letzte Bühne für den heutigen Tag herbei-improvisiert. Sind tatsächlich schon vier Stunden vergangen?

Wir wechseln von Kirschcola zum Käffchen und sind noch mal ganz Ohr. Gundlach kündigt einen guten Rat fürs Leben an, beginnt seinen Text aber zunächst mit einem interstellaren Ausflug. Supernova, rote Riesen, Universum weg, Sonne weg, alles weg, schnell gleite ich in Gedanken ab und kann nicht mehr wirklich folgen. Hätte wohl doch Raketenwissenschaftler werden sollen.

Doch, a propos schwarzes Loch: Sind darin etwa die zwei Drittel der einst dreißig Literaturfreunde entschwunden? Wir haben uns deutlich dezimiert, was soll’s, wir hören weiter zu. Gundlach nähert sich der Pointe, dem Rat fürs Leben, der da lauten soll: “Lebt so, dass euer letzter Gedanke sein wird: Scheiße, war das Leben geil!”. Wie recht er doch damit hat.

Lebemann greift zum Mikrofon, lässt sein letztes, fiktives Speed-Dating mit uns Revue passieren. Ganz witzig, wirklich, am Ende wird ein für alle Male klargestellt: Ja, die “Achtzehn” fährt auch in die Innenstadt.

Welch ein starker Sonntag!

Und wir? Sagen tschüß und fahren statt in die Innenstadt ins schöne Bornheim. Da gibt’s nämlich Lavendel-Minze-Apfelwein und obendrein eine tolle Aussicht hinab vom Hof des Bornheimer Ratskellers (no advertising!).

Wir stoßen an, noch immer ist es hell. Doch schließlich ist es Sonntag. 
Und wir beide sind uns einig: Ein ziemlich starker Sonntag. Auf baldiges Wiedersehen bei der nächsten “LiteRadTour”!