Summer in the City: Eine Stadt im Rausch

“Hot town, summer in the city”, röhrt Joe Cocker in seinem Klassiker. “Back of my neck gettin’ dirt and gritty.” Auf dem Matthias-Beltz-Platz dagegen singt niemand Lieder der verstorbenen Musik-Legende. Vom GUDES aus wabert Reggae-Musik herüber, auch bei 30 Grad hat sich in den Abendstunden wieder einmal ein gefühltes halbes Frankfurter Nordend rund um das Wasserhäuschen und auf dem Platz bequem gemacht.

So sitze auch ich irgendwo zwischen den Sonnenblumen, gepflanzt von einigen eifrigen Anwohnern. Ein Wunder, dass sie trotz des Feinstaubs, welcher unentwegt über der Friedberger Landstraße weht, ihre gelben Blüten nimmersatt gen Sonne strecken. Ich beiße in eine Nektarine, Saft tropft auf meine Oberschenkel und vermengt sich augenblicklich mit meinem Schweiß. “Was soll’s”, denke ich mir. Wenn sich Sommer nicht genau so anfühlt – ja, wie eigentlich dann?

Eine Stadt im Rausch

Ein Tennisball rollt an mir vorbei, ein kleiner Hund hechtet hinterher und hinterlässt Staubwolken. Ein Mann spielt mit seinem vierbeinigen Freund, amüsiert beobachte ich das Treiben. Eine Frau hat es sich im mitgebrachten Liegestuhl bequem gemacht, ist versunken in ihr Buch, nippt abwechselnd an Apfelwein und Mineralwasser. Ein Haufen Halbstarker hat sich um einen Tisch geschart und spielt Karten, gleich nebenan kichern junge Frauen mit großen Sonnenbrillen und öffnen kleine Sektflaschen. Braungebrannte Männer geben sich High Five und öffnen große Bierflaschen. “Kann ich die haben?”, ein Mann sammelt Pfandflaschen. Selbst er hat ein Grinsen im Gesicht. “Klar, Bruder. Kannste haben!”

Im Baum über mir hat jemand eine Leinwand an einem Ast aufgespießt, das nennt sich dann wohl “Urban Art”. Ein Anderer schüttet sich Wasser in den Nacken, es ist wirklich heiß an diesem Montag. Ich schütte derweil einen Schluck Apfelwein in mich hinein, schaue herüber zu meinem Wohnhaus. Die sommerliche Tollerei kann nicht jedermann genießen, Anwohner laufen Sturm. Sie haben Flugzettel in den Briefkästen der Nachbarschaft verteilt und dazu aufgerufen, bei Lärm die Polizei zu rufen. Ich bin ebenfalls ein Anwohner und habe die “Kampagne” mit eigenen Flugblättern erwidert, habe die Nachbarn dazu eingeladen, doch einfach mal Platz zu nehmen auf dem Matthias-Beltz-Platz.

Sich auch einfach mal ein Bier zu öffnen, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen oder in Lektüre zu versinken. Einfach mal entspannt zu bleiben. Nun; auch eine Art, sich mit es mit den Nachbarn zu verscherzen.

Nicht ganz in der Nachbarschaft, doch nicht einmal einen Kilometer weit entfernt hat in diesem Moment das STOFFEL den Günthersburgpark in Beschlag genommen und in ein fröhliches Festivalgelände verwandelt. Schon beim Eröffnungstag bildeten uzählige Picknickdecken einen Teppich auf den Wiesen des Parks und ließen kaum mehr einen Grashalm erkennen. Braucht sich die Frankfurter Kulturlandschaft schon im Winter nicht zu verstecken, so scheint die Stadt im Sommer geradezu zu bersten vor kulturellen Highlights.

Für ganze drei Sommerwochen lang haben die Macher des Stalburg-Theaters (fast) Tag für Tag ein buntes Bühnenprogramm auf die Beine gestellt, welches sich wahrlich nicht zu verstecken braucht. Schon ab dem Nachmittag sorgen Lesungen, Aufführungen und Auftritte (nicht nur musikalischer Art!) dafür, dass Frankfurter Feierabend auf das Vorzüglichste genossen werden können.

Ein ganz normaler “STOFFEL”-Abend

Auch die Macher des Kulturfestivals Sommerwerft haben sich nicht lumpen lassen. Sogar ein Zirkuszelt wurde aufgebaut, um das östliche Mainufer über Wochen hinweg zur alternativen Bühne und interkulturellen Zusammenkunft werden zu lassen. Jeden Tag aufs Neue finden Konzerte, Theateraufführungen, Poetry Slams oder Filmvorführungen statt, umweht von einem Hauch Karibik.

Als seien das kulturelle Angebot der beiden Freiluft-Feste und damit die Qual der Wahl noch nicht groß genug, kommen Theaterfreunde zeitgleich im Grüneburgpark auf ihre Kosten: Die Dramatische Bühne gastiert in einer der schönsten Grünanlagen der Stadt und lässt Zuschauer frische Sommerluft statt trockene Saalluft atmen.

Kultur gibt’s nicht umsonst

Die zahlreichen Möglichkeiten, heiße Feierabende zu verbringen, sind keineswegs ein Grundrecht. Wir alle – hier spreche ich wohl nicht für mich alleine –  vergessen  oft nur allzu sehr, dass hinter den Veranstaltungen Menschen stecken, welche eine Menge Zeit, Geld und Herzblut in deren Organisation stecken. Für diese Idealisten ist es Jahr für Jahr aufs Neue eine Herausforderung, trotz Zuschüssen seitens der Stadt bei freiem Eintritt kostendeckend zu arbeiten. Ohne die zahlreichen freiwilligen Helfer, die Zelte auf- und abbauen, Programmhefte drucken und durstige Kehlen beglücken, wären die Veranstaltungen ohnehin undenkbar. Doch nie zuvor stand beispielsweise das STOFFEL auf derart wackligen finanziellen Füßen wie in diesem Jahr: So haben unter anderem gesteigerte Sicherheitsauflagen die Kosten für das Fest weiter in die Höhe getrieben. Machen wir uns das bewusst – und geben wir den Veranstaltern ein wenig Support, indem wir uns unsere Freunde schnappen und auf ein, zwei Kaltgetränke bei STOFFEL, Sommerwerft & Co vorbeischauen!

 

Frankfurt, ein Sommermärchen

Ja, der gemeine Frankfurter wünscht sich, im Sommer zwei-, wenn nicht gar dreiteilen zu können:  So servieren obendrein etwa die Gutleuttage statt Ausblicke auf die Theaterbühne spannende Einblicke in einen zu Unrecht etwas in Verruf geratenen Stadtteil.

Auch hinter dieser Veranstaltung stecken weder Stadt noch große Event-Unternehmen – vielmehr engagierte, junge Köpfe mit einem gewissen Hang zum Risiko und einer großen Portion Liebe zu unserer Stadt. Mit jeder Menge Liebe werden auch zwei “Klassiker” gestaltet, die sich längst im Frankfurter Sommer etabliert haben: So bietet das Osthafen-Festival in etwa ein hochkarätiges Konzertprogramm und Eisenbahn-Sonderfahrten entlang der alten Hafenanlagen. Ganz zu schweigen vom Museumsuferfest mitsamt seines atemberaubenden Feuerwerk!

Doch auch der Alltag jenseits der zahlreichen Feste gestaltet sich im Frankfurter Sommer deutlich entspannter. Manchmal, schmunzele ich während ich einen Blick auf die immer noch in ihr Buch versunkene Frau im Liegestuhl neben mir werfe, mag man sich in diesen Tagen fast wie im Süden fühlen!

Theater, Freunde, Apfelwein: Auf der “Sommerwerft”

Selbst auf der für gewöhnlich vom Konsumterror beherrschten Zeil hetzen die Menschen ein wenig langsamer über das heiße Pflaster. Manche stellen gar die prall gefüllten Primark-Tüten ab, um auf einer der Sitzbänke Platz zu nehmen und sich für einen Moment lang von den Sonnenstrahlen im Gesicht streicheln zu lassen. Auf dem Wochenmarkt an der Konstablerwache dominiert Obst das Tagesgeschäft, ein kalter “Rauscher” sorgt für eine kühle Erfrischung auf hessische Art und Weise. Auf den Treppenstufen sitzen Pärchen, Cliquen und Familien. Die Kleinen trinken kalte Cola, die Großen Bier, die Harten Jack-Daniels-Cola aus der Dose.

Auch in den grünen Oasen der Stadt herrscht Ausnahmezustand: Im Brentanobad wird um jeden freien Quadratmeter der Liegewiese gekämpft, auf dem Lohrberg stauen sich die Autos über mehrere hundert Meter hinab bis zur Bundesstraße. Im Ostpark, der neben den Nilgänsen vor allem für seine große Grillfläche bekannt ist, werden die weißen Pavillons über Nacht gar nicht erst abgebaut. Im Bethmannpark rücken alte Herren an großen Schachfiguren, überdenken ihren nächsten Zug bei einem Schluck aus der Bierflasche. Jenseits der 30 Grad hält es eben auch die größte Couch-Potatoe nicht mehr in der überhitzten Wohnung. Bänker köpfen Champagner-Flaschen auf versnobten Rooftop-Bars, auf dem Main stehen Standup-Paddler auf wackligen Beinen, während Tanzende auf dem Deck des vorbeifahrenden Ausflugsschiff ihr sommerliches “Afterwork” begießen.

Ein Fluss als Zweitwohnzimmer

Überhaupt, der Main: Die Uferflächen erweisen sich in der schönsten Zeit des Jahres als ein auf 10 Kilometer erstrecktes Sommerparadies. Anlaufstelle erster Wahl dabei: Das MainCafé, in dessen Dunstkreis kein Stückchen Wiese unbesetzt und keine Kehle trocken bleibt. Wenn es dann irgendwann dunkel wird, und sich die Skyline im Mondschein im Fluss spiegelt, fällt es besonders schwierig, sich nicht in diese Stadt zu verlieben. Nur, wenn es ganz still ist, erreichen gedämpfte Bässe vom Yachtklub-Boot dieses Stückchen Süden am Main.

Viel zu häufig bleibt der drollige Nidda-Fluss vom großen Schatten des namensgebenden Main verdeckt. Wer nicht gleich eine tagesfüllende Radtour unternehmen will, schwingt sich auf den Sattel und gleitet ihre schattigen Ufer entlang. Unterwegs hängen bewegungslustige Großstadtbewohner ihre Füße ins kalte Wasser der Staustufe Nied, erfrischen sich mit einem Drink am Niddastrand – oder fahren gleich durch bis in den westlichen Stadtteil Höchst, in dem es sich an der Alten Schiffsmeldestelle ohne Weiteres einen ganzen Tag vertrödeln lässt.

Der erste Sommer

“Hey, Matze! Mal wieder faul am Rumhängen?” Ich werde von einer lieben Bekannten am Nacken gepackt und aus meinen Gedanken gerissen. “Auch noch ‘nen Apfelwein für dich?”

Ich betrachte den Füllstand meiner Flasche und bejahe. Mich beschleicht eine dunkle Vorahnung, dass dieser Abend noch lange andauern wird. Macht ja nix: In dieser Nacht werden die Temperaturen nicht unter zwanzig Grad sinken. Es sind diese Momente, welche mich meine Heimat besonders lieben lassen.

“Ich hab’ mich am Anfang in Frankfurt nicht wirklich wohl gefühlt”, diesen Satz habe ich von Zugezogenen schon oft gehört. “Doch dann kam mein erster Sommer in der Stadt.”

Ich verstehe nur allzu gut, was sie meinen. “Eingeplackte” eben.

Hörspiel-Liebe: Weshalb man für drei Nachwuchs-Detektive Frankfurt kurzzeitig verlassen sollte

Es gibt – nach meiner Auffassung – exakt drei legitime Gründe, unser wunderbares Frankfurt für eine Zeit lang zu verlassen. Zum Ersten wäre da das Geldverdienen, schließlich ist der Zaster dieser Welt nicht allein auf den Straßen Frankfurts verteilt. Selbst ein Leben im Einzimmerloch ist hier schließlich nicht ganz günstig und will irgendwie finanziert werden. Notfalls eben auch mit auswärtigen Geschäftsterminen.

Zum Zweiten wäre da, na klar, das Reisen: Es ist okay, sich hin und wieder ein wenig in der Welt umzuschauen. Wie soll man auch die eigene Heimat schätzen, wenn man nicht hin und wieder mal auf Reisen geht? Nachdem man erstmal einige Tage oder Wochen lang in fremden Städten abgetaucht ist, in den Meeren dieser Welt geschwommen ist oder ferne Gipfel erklommen hat, ist das Gefühl umso schöner, wieder zu Hause zu sein. Und immer wieder stellt man fest: Hey, so schlimm haben wir es in Frankfurt wahrlich nicht erwischt. Wie schön, hier leben zu dürfen.

Der dritte Grund, welcher es rechtfertigt, die Stadt unserer Herzen zu verlassen, sind: Die Drei Fragezeichen. Richtig gelesen, jawoll: Die Drei Fragezeichen. Die Drei Fragezeichen?! Doch Eines nach dem Anderen…

Der Himmel ist grau, trotzdem ist es drückend heiß. Ein Tag im Juli, ich habe es mir bequem gemacht und starre durch das Fenster hinaus auf das Gewusel der Pendler auf den Bahnsteigen.

Mit der unverkennbaren Melodie der Stromrichter setzt sich mein ICE in Bewegung. “So fühlt sich das also hinten an”, grinse ich in mich hinein und rutsche noch ein Stückchen tiefer in den blauen Sitz. Mein Ziel ist Dortmund, und noch ehe der ICE 626 den Flughafen erreicht und auf der Schnellfahrstrecke seine Höchstgeschwindigkeit von 300 Stundenkilometern erreicht haben wird (nur Fliegen ist schöner!), bin ich in meiner heilen Welt versunken. Die Welt der drei Detektive aus Rocky Beach.

Die Drei Fragezeichen und ich

Jeder braucht sein ganz eigenes Stückchen heiler Welt, und jeder findet einen solchen Rückzugsort woanders. Einen Ort, an den man flüchten kann, wenn die Welt da draußen wieder einmal kaum mehr zu ertragen ist. Und sei es nur ein fiktiver. Als Kind hatte ich mich zunächst in die Welt von TKKG geflüchtet. Die Abenteuer von Tim, Klößchen, Karl und Gabi, erzählt zwischen königsblauen Buchdeckeln. Unzählige dieser Bücher stapeln dürften sich auch heute noch in meinem Elternhaus stapeln, vom Königsblau dürfte vor Staub kaum mehr etwas zu erkennen sein.

Auch die Hörspiele der vier Abenteurer hatte ich für mich entdeckt, hatte viele fröhliche wie traurige Stunden mit einem unansehnlichen Bügel-Kopfhörer auf dem Köpfchen verbracht. Habe auf die Holzdecke über meinem Bett gestarrt so wie heute aus dem Zugfenster, habe immer wieder neue Bilder auf ihr gemalt. In Gedanken, versteht sich, und zwischendurch: Die Kassette gedreht. Warum nur war eine Seite immer genau dann zu Ende, wenn es doch am spannendsten war? Die nun folgenden Handgriffe beherrschte ich im Schlaf. “Open”; die Kassette herausgezogen, mit flinken Fingern gewendet und wieder in den Rekorder gesteckt. Klappe zu, auf “Play” gedrückt: Weiterträumen.

In meinem Heimatdorf gab es ein kleines Lädchen, “Pia’s Lädchen” um genau zu sein. Das Geschäft ist längst Geschichte, doch immer noch erinnere ich mich an die hohen Regalreihen, prall gefüllt mit Hörspielkassetten. Ein Paradies, wenn auch die Qual der Wahl mich schon damals gelegentlich überfordert hatte. Doch reichten die zehn Mark Taschengeld eben nur für eine neue Kassette oder ein neues Buch, da wollte die Kaufentscheidung wohlweislich bedacht sein. Für solche Fälle verfüge ich heutzutage zu meiner Freude und meinem Leidwesen gleichermaßen eine Kreditkarte.

Während ich meine Kinder- und Jugendzeit also komplett auf die “Profis in spe” verschwendete, ließ ich ausgerechnet die Drei Fragezeichen sträflichst außer Acht. Ein Umstand, der sich erst Jahre später ändern sollte. Viele Jahre.

Auf dem Platz mir gegenüber döst ein kleiner Junge, seine Mama daddelt auf ihrem Handy. Wie alt der Kleine wohl sein mag? Vier Jahre, fünf, vielleicht schon sechs? Jedenfalls, wieder muss ich schmunzeln, eigentlich müsste statt mir doch er sich die Bahnfahrt mit einem Hörspiel vertreiben. So eindeutig aber, so viel weiß ich mittlerweile, ist das mit der Zielgruppe bei Hörspielen längst nicht mehr. Ich jedenfalls hatte mir als guten Vorsatz für das laufende Jahr das Ziel gesteckt, meine an TKKG verlorene Jugend nachzuholen. Dass ich mittlerweile schon irgendwas-um-die-Dreißig war, sollte mich in meinem Vorhaben nicht weiter stören. Bis zum Jahresende, so schwor ich mir zum Jahreswechsel, würde ich sämtliche der zum damaligen Zeitpunkt 191 (!) existierenden Folgen der drei Fragezeichen gehört haben. Noch am Neujahrsabend fing ich damit an. Ich war den Dreien, das muss ich so klar sagen, schon bald verfallen. Vergessen waren Tim, Karl, Klößchen und Gabi. Justus, Bob und Peter waren nun der heiße Scheiß für mich, und bereits im Juni hatte ich innerhalb von nur einem halben Jahr jede Sekunde der über 30-Jährigen Geschichte der drei Nachwuchs-Detektive gehört. Hatte ein Jedes ihrer Abenteuer miterlebt, hatte mit ihnen gehofft, gebangt, gezittert, hatte mich über Justus’ permanentes Kluggescheiße aufgeregt und ihn dennoch gerade wegen dieser so sehr ins Herz geschlossen. Hatte Skinny Norris zu hassen begonnen und begehrte ein Stück von Tante Mathildas Kirschkuchen.

Draußen zieht der Westerwald vorbei, der kleine Junge döst noch immer. Und ich? Denke zurück an jenes tiefe Loch, in welches ich zu fallen schien, nachdem ich die Abenteuer der Drei Detektive, nun ja, gewissermaßen “ausgehört” hatte. Ich hatte doch tatsächlich gar nicht bemerkt, wie sie mir längst ein liebes Stückchen Alltag geworden waren. Was also tun? Eine Bewerbung als Synchronsprecher bei SONY BMG als Produzentin der Hörspielserie verlief leider erfolglos. Ich habe keine Sprecherausbildung, hieß es im Antwortschreiben des Konzerns, da könne man nix machen. Als kleines Trostpflaster legte man der Absage eine Autogrammkarte der Synchronsprecher bei, na immerhin. Ich jedoch konnte etwas machen: Mir die Wartezeit auf neue Folgen mit den gleichnamigen Adventure-Spielen vertreiben, beispielsweise. Oder aber auch: Mit dem ICE nach Dortmund fahren. Denn dort findet heute – drei Tage vor der Veröffentlichung der nunmehr 194. Folge “Die drei ??? und die Zeitreisende” die zugehörige Record Release Party statt.

Sprich: Ein Haufen Hörspielverrückter kommen zusammen, um gemeinsam schon vorab der neuen Folge ihrer Helden zu lauschen. Ein solches Treffen findet pünktlich kurz vor der Veröffentlichung einer jeden neuen Folge statt und wird von der “Lauscherlounge” organisiert. Diese ist ein Projekt von Sprecher Oliver Rohrbeck, der dem ersten Detektiv schon als Kind seine Stimme geliehen hat. Während Justus Jonas nie gealtert ist und über die Jahrzehnte Kind geblieben ist, sind die Jahrzehnte an Rohrbeck nicht spurlos vorbeigezogen: 53 Jahre ist der Berliner heute alt. Mit seiner Stimme sind Generationen großgeworden, kaum eine dürfte im deutschen Sprachraum über einen ähnlichen Bekanntheitsgrad verfügen.

Wir erreichen Köln. In meinen Gehörgängen sucht Justus Jonas seine eigentlich tödlich verunglückten Eltern, die Mutter des Kleinen tippt immer noch auf ihrem Handy herum. Dabei wirkt sie ein wenig hilflos. Ich merke, wie ich aufgeregt werde. Nicht nur, dass ich Rohrbeck persönlich treffen und sprechen hören werde. Vielmehr frage ich mich: Wie mag wohl der durchschnittliche Besucher eines “Public Listenings” eines Kinderhörspiels sein? Ich ahne, dass die eigentliche Zielgruppe – die Kinder – eine Minderheit bilden werden. Noch während die Türen sich schließen und der ICE weiter in Richtung Ruhrpott rollt, verwette ich meinen straffen Hintern darauf, dass ich mit Abstand nicht der Jüngste sein werde in der Halle unweit des Dortmunder Hauptbahnhofs. Ein Großteil der Besucher, da bin ich mir sicher, werden sein wie ich: Längst erwachsen, längst angekommen im Leben. Mittendrin in dessen Freuden, Widrigkeiten, Höhen, Tiefen, Pflichten,Leiden. Kassetten-Kinder wie ich, welche die Helden ihrer Kindheit im Kassettenkoffer mit hinein in ihr Erwachsenendasein getragen haben. Sich das kleine Mädchen und den kleinen Jungen zumindest innerlich bewahrt haben, auch wenn sie ihre heile Welt mittlerweile eher auf Spotify denn auf Musikkassetten finden dürften. Zu meiner Linken zieht der Kölner Dom vorbei. Ich bekomme Hunger auf Bandsalat. Nicht mal mehr eine Stunde bis in die Borussenstadt.

 

Wenn T-Shirts noch ganz harmlos sind

Mit obligatorischen zehn Minuten Verspätung stoppt der Zug und spuckt mich hinaus in die Nachmittagshitze der Ruhrpott-Metropole. Hey, Dortmund – schön, dich mal wieder zu sehen! Alles gut bei dir? Mit Dortmund verbindet mich viel, in jedem Winkel kleben Erinnerungen fest. Ich hatte eine gute Zeit hier, mag die Stadt bis heute sehr. Liebe den grauschwarzen Putz auf den Fassaden ihrer Arbeitersiedlungen, liebe die Relikte einer von Ruß bedeckten Ära. Liebe den weitläufigen Westfalenpark, liebe das bunte Blütenmeer des Rombergparks. Liebe die schmutzigen Straßen, die unverblümte Herzlichkeit der Menschen. Dortmund, du bist nicht Frankfurt. Und das ist gut so.

Doch bin ich heute nicht hier, um im Park zu spazieren oder mich in einer der vielen Eckkneipen niederzulassen. Ich bin hier wegen der drei Jungs aus Rocky Beach – und ich bin nicht alleine: Schon auf dem Bahnhofsvorplatz begegne ich ersten T-Shirts mit dem Logo der drei Fragezeichen. Ich frage mich, ob ich überhaupt adäquat genug gekleidet bin. Noch kann ich nicht ahnen, dass Fan-Shirts noch eine recht dezente Sympathiebekundung für die Hörspiele darstellen sollten.

Bis zur Kulturhalle FZW ist es nicht weit. Eine halbe Stunde vor Beginn tummelt sich bereits eine Horde Fans vor dem Einlass, kaum jemand scheint jünger als ich. Ein kurzes Raunen geht durch die Menge, als eine junge Frau mit grünen Haaren vorfährt. Ihr Auto ist geschmückt von Motiven aus der Welt der “Fragezeichen”. Ich bin baff. Schnell bin ich mit ihr im Gespräch, gern darf ich ein Foto von ihrem Fanmobil machen. Wenn du das hier lesen solltest, Katrin: Viele liebe Grüße aus Frankfurt! Die Fußmatten im Innenraum sind mit drei Fragezeichen bestickt. “Hab’ ich selbst gemacht!”, sagt sie. Dass auch die Gurtpolster mit drei Fragezeichen versehen sind und in den Seitenfenstern die Visitenkarte der “Drei” steckt, wundert mich da kaum mehr. Sie fährt nicht nur ein abgefahrenes Auto, auch ihr Turnbeutel ist bemerkenswert. “Ich wandere aus nach Rocky Beach!”, ich muss herzlich lachen. Verrückte Welt!

Wir plauschen noch ein bisschen im Schatten des berühmten “U”, dann geht’s hinein.Direkt im Eingangsbereich befindet sich das, was man bei Konzerten wohl als Merchandising-Stand bezeichnen würde. Erste Anlaufstelle für eingefleischte Fans, hier gibt’s neben T-Shirts tatsächlich auch noch Kassetten und Vinyl. “Ich hab’ die erste Auflage der Pressung von ‘Im Zeichen der Ritter’, trotz Kratzer noch 200 Euro wert!”, ich vernehme Fachgesimpel. Quatsche mich auch hier ein wenig durch, bevor ich nochmal Pipi mache und mir einen Platz in der Halle suche.

Zunächst staune ich nicht schlecht:
Viel mehr Menschen als ich dachte haben ihren Weg in den unscheinbaren Bau in der Nähe des Hauptbahnhofs gefunden. Ein erster, flüchtiger Check ergibt: Die meisten dürften in meinem Alter sein, Kinder dagegen sehe ich nur wenige. Ich habe mal wieder mehr Glück als Verstand und finde inmitten der bereits vollbesetzten Stuhlreihen noch einen freien Platz in der dritten Reihe. Auch hier bin ich schnell im Gespräch. Mein Nebenan hat die Schallplattensammlung seiner Tante geerbt. Darunter, wie kann es auch anders sein: Jede Menge ??? auf Vinyl. Er staunt nicht schlecht, als ich erzähle, dass ich eigens aus Frankfurt angereist bin. “Da war ich nur ein einziges Mal”, sagt er. “Viele Hochhäuser – und es soll verdammt teuer sein dort!” Ich nicke stumm und denke mir meinen Teil.

 

Ein Sinn zuviel

Das Licht geht aus, unter lautstarkem Geklatsche betritt der Star des Abends die Bühne: Oliver Rohrbeck, seit 1979 Stimme des “ersten Detektivs” Justus Jonas. Er ist kleiner, als ich erwartet hätte. Bereits sein “Guten Abend, Dortmund!” lässt mich zusammenzucken – unweigerlich ordnet mein Oberstübchen seine Stimme dem adipösen Detektiv zu. Dass statt Justus Jonas aber gerade ein 53-jähriger Glatzenträger spricht, ist eigenartig. Rohrbeck begrüßt die amtlich mehr als 600 angereisten Fans. Ich frage mich, wie viele der Silhouetten im Saal eine noch weitere Anreise auf sich genommen haben mögen. Rohrbeck gibt ein paar Anekdoten aus dem Aufnahmestudio im Hamburger Anwesen von Produzentin und Hörspiel-Königin Heikedine Körting zu Besten. In diesem entstehen, nebenbei bemerkt, auch die TKKG-Hörspiele.

Bevor wir ein exklusives Pre-Listening der neuesten Folge erfahren dürfen, gibt sich auch Rohrbeck schon ganz gespannt: “Ich erinnere mich an nichts mehr!”, behauptet er und erntet damit einige Lacher. Zwischen den Aufnahmen und dem heutigen Tag läge immerhin ein halbes Jahr. Nun könne es aber losgehen. Und das tut es auch. Applaus brandet auf und begleitet das berühmte Intro. Es ist ein merkwürdiges Gefühl: 600 Menschen sitzen in einer Halle und starren auf eine leere Bühne. Leer bis auf Rohrbeck, der es sich einem schwarzen Ledersessel bequem gemacht hat. 600 Menschen sitzen also da und tun nichts, als hörenderweise einer Geschichte zu folgen. Mein Nebenmann bringt die skurrile Situation auf den Punkt: „Ich glaube, ich habe gerade einen Sinn zu viel!“, flüstert er mir zu. Ich kann ihm nur recht geben.

Ich beschließe, meinen Sehsinn kurzzeitig zu eliminieren und schließe meine Augen. Unweigerlich malt mein Kopf bunte Bilder zum Gehörten. Vielleicht liebe ich Hörspiele wie Bücher deswegen: Sie erlauben meiner Phantasie, frei zu sein. Von Filmen dagegen fühlt sie sich beleidigt.

Nur hin und wieder öffne ich für einen kurzen Moment die Augen, betrachte den Mann auf dem Ledersessel, dessen Stimme bekannter ist als sein Gesicht. Die Vorstellung, dass Justus Jonas‘ Worte, denen ich folge, eigentlich seine sind, wirkt unglaublich.

Über den Inhalt des Gehörten mag ich mich an dieser Stelle freilich nicht äußern. Niemandem soll die Spannung und Freude auf die neue Folge genommen werden!

Nach 75 Minuten und einem verblüffenden Ende schüttele ich mich. Erstaunlich, wie sehr ich einmal wieder die Welt um mich herum vergessen konnte. Abermals Applaus, auch Rohrbeck scheint zufrieden mit dem jüngsten Streich der Detektive. „Es gibt ja solche und solche Folgen“, resümiert er. „Diese hier war eine solche.“

Zeit für eine Pause. Frische Luft, zwei hastig gerauchte Zigaretten. Das nächste Highlight steht bevor.

Schon Tradition bei den „Record Release Parties“ sind die Mitmach-Hörspiele. Auch dieses Mal werden einige Zuschauer von Rohrbeck ausgewählt, um auf der Bühne eine Sprecherrolle zu übernehmen. Der Name der heutigen Folge: „Die drei Fragezeichen und das Spiel ohne Regeln“. Die Kurzgeschichten werden aufgezeichnet und anschließend als Podcast zur Verfügung. Rohrbeck instruiert zunächst die Freiwilligen. “Die wissen meistens gar nicht, wie nahe man an so ein Mikrofon heran muss!”. Ich grinse, musste ich einst auch lernen. Die Technik will nicht so wie Rohrbeck will, man fängt noch mal von Neuem an. Der Freude, zuzuschauen, tut das keinen Abbruch.

Die sechs Auserwählten geben sich redlich Mühe. Ich finde gar, dass sich der heutige Sprecher des Chauffeurs Morton viel mehr nach Morton anhört als der echte Morton. “Sehr wohl, die Herren!”

Ich bin verwirrt. Am liebsten beobachte ich aber Rohrbeck in seiner Rolle als Justus Jonas. In ihr, das merkt man, fühlt er sich sicher. Er unterstreicht Justus‘ Sätze gern mit Blicken und Gesten. Statt sie zu spielen, lebt er seine Rolle. Quasi ganz nebenbei bedient er ein überdimensionales Soundboard, um die Hörspiel-Szenerie mit Geräuschen zu unterstreichen und die Stimmen mit Effekten zu belegen. Klar, dass ein Telefonanrufer auch so klingen muss, als spreche er durch eine Hörermuschel!

Fast ein wenig traurig – doch ich komme wieder!

Zum Abschluss gibt’s noch eine Tombola. Ich gewinne nichts, doch bin nicht enttäuscht – denn gewonnen hab’ ich ohnehin, nämlich die Erfahrung, dass ich mit meiner kleinen “Macke” nicht allein bin. Zum ersten Mal saß ich gemeinsam mit hunderten Vollblut-Erwachsenen in einer Halle, die sich ihre heile Hörspielwelten niemals haben nehmen lassen. Solange die Phantasie noch lebt, ist kein Kampf verloren!

Und so bin ich fast ein wenig traurig, als das Licht angeht und sich die Reihen lichten. Auch für mich heißt es nun, Abschied zu nehmen – vorerst zumindest. Am Bahnhof kaufe ich mir noch ein Exportbier für die Heimreise im Nachtzug. Normalerweise trinke ich kein Bier, doch in Dortmund, da gehört das so. Und Apfelwein gibt’s dort eh nicht.

Als ich im Sitzpolster versunken bin und die Laternen der schwarzen Provinzbahnsteige vorbeihuschen sehe, freu’ ich mich schon jetzt auf die nächste “Record Release Party”. In zwei Monaten wird Folge 195 erscheinen, und ich werde dafür nach Berlin reisen. “In Kürze erreichen wir Bochum”, ich öffne meine Flasche Exportbier. Ich nehme einen Schluck, krame meine Kopfhörer aus dem Rucksack. Noch knapp vier Stunden bis Frankfurt. Das langt für drei Folgen. Auf der anderen Seite des Intercity-Wagens sitzt ein junges Mädchen und starrt auf ein vor ihr aufgeklapptes Tablet. Offensichtlich schaut sie eine Serie. “Soll die Jugend von heute mal machen”, denk’ ich mir. Ich gebe weiterhin nichts auf Bewegtbilder und setze weiterhin auf meine Hörspiele.

Als die Titelmelodie der “Fragezeichen” ertönt, breitet sich ein Grinsen in meinem Gesicht aus. Wenig später bin ich weg. Im Halbschlaf höre ich Justus klugscheißen. Hin und wieder erscheint Oliver Rohrbeck in meinem Kopf.

Gefangen im Sommerloch.

Irgendetwas ist anders in meiner Stadt.


Ausgerechnet auf dem Tiefbahnsteig der Kontablerwache wird mein zunächst diffuses Gefühl zur unumstößlichen Gewissheit. Niemand hier schimpft lauthals über die S-Bahn, die – immer dasselbe mit der scheiß Bahn! – mal wieder zu spät ist, was mitunter daran liegen mag, dass die S-Bahn gar nicht fährt. Es ist Juli 2018, und noch fünf Wochen lang ist der Stammstreckentunnel aufgrund von Bauarbeiten gesperrt. Über der hässlichen Deckenverkleidung des Tiefbahnhofs brennt Sonne auf Asphalt, Sommerferien. Wer es sich leisten kann, ist weg, Ferienhaus in Südfrankreich, Backpacking in Vietnam, All inclusive auf Kreta, schlimmstenfalls auch Saufurlaub auf Malle oder Verwandtschaftsbesuch in Hoyerswerda, Hauptsache weg, was weiß denn ich.

Ferien zu Hause

Wer nicht weg ist, tut zumindest stundenweise so, als befände er sich im Urlaub. Entdeckt das Umland auf dem Fahrrad, springt in den nächsten Badesee, zieht blank im Park – oder eben steigt bepackt mit Badesachen in die U6 in Richtung Hausen, statt notorisch über Verspätungen zu meckern.

So wie auch ich an diesem Sommertag, recht lädiert vom frühen Dienstbeginn. Frühschicht, das bedeutet für mich nicht „dann hab‘ ich wenigstens noch was vom Tag“, vielmehr allerdings: „Mit Ach und Krach reicht der spärliche Rest meiner Energie noch für gedankenloses Dösen aus“. Entsprechend teilnahmslos schiebe ich mich in die mintgrüne Untergrundbahn der VGF. Statt telefonierender Anzugträger und tütenschleppender Primark-Opfer ist die Bahn bevölkert von Großfamilien auf dem Weg ins Freibad. Viele Kinder, sehr viele Kinder, sehr sehr viele Kinder tragen Badeuntensilien in neonfarbenen Taschen und nerven ihre Eltern und wehrlose Mitreisende wie mich. „Sind wir bald da?“, „wann kann ich Pommes haben?“, wird gequengelt. „Ich kann schon sooooo weit schwimmen“, kleine Ärmchen werden auf eine Breite von sechzig Zentimetern ausgebreitet. „Hach ja“, denk ich mir, „die schönste Zeit des Jahres!“ – und stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren. Wähle ganz bewusst die „Wohlstandskinder“ (kennt die eigentlich noch jemand?), der ganz persönlicher Soundtrack zu meiner frühen Jugend. Ich denke zurück an meine eigenen Schulferien, ja, waren die langen Tage im Freibad nicht immer die schönsten, aufregendsten und unbeschwertesten in meinem Leben gewesen? Insofern mache ich doch das einzig Richtige: Nämlich Feierabend und ab in die Badeanstalt, einfach so, ganz so wie früher, gänzlich… unbeschwert, zumindest annähernd.

„Nächster Halt: Fischstein“, gemeinsam mit den sehr vielen Kindern und ihren schon jetzt überforderten Eltern schiebe ich mich hinaus in die Sommerhitze. Selbst auf der Ludwig-Landmann-Straße knutschen keine Stoßstangen, auch hier wirkt die Stadt ein Stück weit verlassen, vom Sommerloch verschluckt. Auch ich war eine Woche weg, Wandern in der Sächsischen Schweiz. Ansonsten viel mit dem Fahrrad unterwegs, Großstadtflucht eben. Hier und da mal ein Artikel für einen meiner Auftraggeber, ansonsten aber: Kreative Flaute im Oberstübchen, lieber verschlang ich in den letzten Wochen Bücher am See oder wandelte über Hängebrücken im Hunsrück.

Die Helden von der Liegewiese: Ein rosaroter Blick zurück

Der Eintritt, so viel steht fest, war früher auch mal günstiger: Hatte ich nicht damals noch drei Mark für die Tageskarte im Dorffreibad gelöhnt? Heute sind’s fünf Euro, Augen zu und durch, hinaus auf die weiten Wiesen des Brentanobads, die auch mal grüner ausgesehen haben. Die Badehose hab‘ ich drunter, und während ich mir ungelenk die Jeans abstreife, halte ich Ausschau nach den Nilgänsen. Das Vogelvieh produziert nämlich gerade so Einiges an Schlagzeilen – und soll demnächst mit dem Schießgewehr direkt vor Ort, hier in der Badeanstalt, mit dem Schießgewehr erlegt werden.

A propos Schlagzeilen:
Auch im Lokalteil meiner Zeitung herrscht ein düsteres Sommerloch. Der Oberbürgermeister ist (wieder-)gewählt, die ersten Straßenfeste sind gefeiert, das Ostend nahezu fertiggentrifiziert. Die neue Altstadt zwar noch nicht offiziell, aber weitgehend eröffnet. Heute aber wird über ein versteinertes Federvieh von Archeopteryx, welches ins Senckenbergmuseum einzieht, in einem Ausmaß berichtet, als stünde eine Fusion Frankfurts mit Offenbachs kurz vor der Türe. Oder aber auch von einem Wels im Offenbacher Dreieichweiher, welcher sich erdreistete, flauschige Entenküken zu verschlingen. Nun ja, auch Politiker und Redakteure wollen einmal durchatmen. Wer weiß, vielleicht liegt ja einer von ihnen neben mir auf dem verbrannten Rasen?

Ich mustere also ein wenig die anderen Badbesucher. Eine Mutter hat Wassermelonenstücke für ihre Kinder mitgebracht. Ich habe Zigaretten mitgebracht und zünde mir eine an. Ich schaue ein wenig in die Wolken da oben am Himmel über mir und puste ihnen Rauch entgegen. Einzelne der Kondensmassen formen lustige Tierchen, grimmige dreinblickende Hexen und – ja, tatsächlich – eine Dampflokomotive.

Kurz verfalle ich zurück in rosarote Freibad-Nostalgie. Doch rein objektiv betrachtet liegt hier schlicht ein Um-die-Dreißiger auf einer karierten Decke inmitten einer Großstadt. Ein Erwachsener, der im Supermarkt gesiezt wird und keine Schülerausweise mehr fälschen muss, um Apfelwein zu kaufen.

Ein Erschöpfter, der umringt ist von muskulösen Jungs mit den mutmaßlichen Namen ihrer Kinder auf ihren Unterarmen und in sich hineinlacht.

 

Nebenan:
Eine Horde Halbstarker mit Bluetooth-Lautsprecher. “Bruder, lass’ mal Shisha!” – sollten das etwa die coolen Kids von heute sein? In meiner Erinnerung da waren doch wir, ganz klar, die Könige der Liegewiese. Wir hatten keine Bluetooth-Lautsprecher, wir hatten ein Nokia 3210. Statt Shisha rauchten wir Zigaretten für fünf Mark. Kurz werde ich traurig, blicke hinüber zum Roman, der noch immer neben mir liegt. Doch zum Lesen fühle ich mich zu müde. „Made in Türkiye“, dröhnt Rap-Gerotze aus Richtung der Halbstarken. Irgendwas mit Ghetto, niemand solle sich mit dem Rapper anlegen, weil er und seine Brüder ihn dann wohlweislich fickten. Wie soll sich so jemals das Gefühl der Unbeschwertheit von Damals einstellen? Wo sind die ersten Küsse unter dem Wasserfall geblieben, wohin ist das Adrenalin auf dem Dreimeterturm?

Vom Zerfließen der Inspiration und dem Geficktwerden

Ich dreh‘ mich auf den Bauch und lege meinen Kopf zur Seite. Ein Bügel meiner Sonnenbrille malträtiert meine Schläfe. Schön, dass sie noch da ist – nur wünschte ich, dahinter befände sich nicht gerade ebenfalls ein großes Sommerloch. Während der unbekannte Rapper seinen Drogenkonsum lyrisch verarbeitet und dabei „Koks“ auf „tot“ reimt, brüllt es nun auch von rechts herüber. „Kann ich Eis, Mama?“

Herrgott, kann ICH denn vielleicht einfach mal meine Ruhe haben? Kein Wunder, dass auch jegliche Inspiration zerfließt wie eine Kugel Erdbeereis bei dreißig Grad. Freibad, da bin ich mir nun ganz sicher, hat sich früher anders angefühlt. Wo sind die Jungs, die ich im Wasser tunken kann? Wo sind die Mädchen, die ich mit einem Salto vom Dreier in Entzückung zu versetzen gedenken kann? Ich rauche noch eine Zigarette und erhebe mich mühsam von meiner Decke. Springe ins kalte Wasser, bekomme eine Gänsehaut. Immerhin die funktioniert noch wie früher.

Ich lasse mich ein wenig treiben, rudere hin und wieder mit den Armen, um nicht unterzugehen. Mein Kopf freut mich auf jene Zeit nach dem Sommerloch, irgendwann im August. Wenn U-Bahnen wieder voll und Bäder leer sind. Wenn possierliche Tierchen aus den Lokalnachrichten verschwunden und Halbstarke in der Schule sind. Wenn die Straßen wieder verstopft sind, bei Sommerwerft und STOFFEL das kulturelle Leben wieder tobt. Wenn endlich wieder über verspätete S-Bahnen gemeckert wird. Dann, so hoffe ich, werde auch ich zurück in meine schöpferische Routine gefunden haben.

Mit der schönen Gewissheit, dass auch das schwärzeste Sommerloch irgendwann zu Ende ist, lasse ich mich von der Sonne trocknen. “Einer von Milliarden”, singen die Wohlstandskinder in meine Gehörgänge. Immerhin wollen sie mich nicht ficken. Ob sie Drogen nehmen, weiß ich nicht. Das Schwimmbecken des Brentanobades verfügt derweil über nur knapp 10 Millionen Liter feuchten Nasses. Die reichen dennoch aus für den Titel des größten Freibades der Republik. Doch was hilft’s, wenn sich nichts mehr nach Freibad anfühlt? Auf dem Heimweg spiele ich noch kurz mit dem Gedanken, mich in ein Café zu setzen und ein wenig kreativ zu sein. Entscheide mich dann aber kurzfristig dafür, eine Langspielplatte zu erstehen. „13 Höhepunkte mit den Ärzten“, ein weiterer Soundtrack meiner Dorfjugend, ihr wisst schon. Nachdem ich in vier verschiedenen Plattenladen erfolglos nachgefragt habe, bestelle ich online. Wieder ist ein Sommertag zu Ende.

Eine letzte Zigarette auf dem Balkon, vom Matthias-Beltz-Platz unter mir ertönt Gejohle und Gelächter. „Ruhe da unten, oder ich ruf‘ die Bullen!“, brüllt eine Nachbarin hinab.

So fühlt sich wohl der Sommer heute an. Fühlt euch gefickt, Leute.