Laufen über Stock und Grabstein.

In meinem jüngsten “Lesestoff”-Artikel, in dem ich euch die beiden Bücher “Club der roten Bänder” sowie “Club der blauen Welt” vorstelle, hatte ich es bereits erwähnt: 

Die Lektüre der beiden Bücher hat etwas in mir bewegt. Etwas ausgelöst, mir ein Bewusstsein geschaffen. Mich an etwas doch eigentlich Selbstverständliches zurück erinnert:

Das eigene Leben ist endlich.

Eine simple Tatsache, die ich, vielleicht wir alle, nur allzu gern verdrängen. Ist das nicht eigentlich schade? Wie soll man auch das Leben schätzen, feiern und genießen, ohne die Existenz des Todes als Gegengewicht anzuerkennen?

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Wir errichten Mauern um den Tod

 

Und während mich diese Gedanken um das Leben und den Tod als Nachhall der Lektüre umtreiben, während ich feststelle, wie achtlos auch ich bisher mit dem Tod umging, drängen sich mir Fragen auf.

Ich lebe im Nordend, fast täglich passiere ich die hohen Mauern des hier befindlichen Frankfurter Hauptfriedhofs. Einen Gedanken daran, wie es dahinter ausschauen könnte – den hatte ich bislang allerdings noch nie verschwendet.

Warum eigentlich? Warum verschließen wir die Augen so sehr vor dem Tode, dass wir sogar seine Heimat mit hohen Mauern umschließen? Als wäre es äußerst unangenehm, nur ein notwendiges Übel, ihm Platz im Raum unserer Stadt zu gewähren zu müssen?

Wieso weiß sogar ein sonst so an unserer Stadt interessierter, neugieriger junger Mensch wie ich nicht, wie es auf dem riesigen Areal hinter den hohen Mauern aussieht? Nein, eine Antwort darauf finde ich zunächst nicht.

Doch einen Blick riskieren hinter die hohen Mauern, das möchte ich. Möchte auch dem Tod Platz in meinem Bewusstsein geben, möchte ihm auch während ich lebe begegnen.

 

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Joggen statt Trauern

 

Ist es nicht irgendwie bescheuert, dass so viele von uns Friedhöfe nur dann aufsuchen, wenn ein lieber Mensch verstorben ist? Wir sind doch allesamt froh, diesen Ort nach der Bestattung möglichst schnell wieder verlassen zu können – und hoffen anschließend, ihn so bald nicht wieder aufsuchen zu müssen.

Warum konfrontieren wir uns nur dann mit diesem Ort, wenn wir einen Mitmenschen verloren haben? Das erscheint mir nun etwas unverständlich. Man sollte den Tod doch zumindest hin und wieder mal kurz grüßen, um ihn nicht zu vergessen. Und das möchte ich nun tun.

“Hallo auch, Tod – ich weiß, dass du auch mich irgendwann ereilst. Aber gerade deswegen möchte ich mein Leben hier genießen, lass’ dir gern noch ein wenig Zeit. ‘nen schönen Sonntag noch!”

Dass ich ausgerechnet heute davon lese, dass die Zahl der Krebs-Neuerkrankungen in Deutschland stark gestiegen ist, schockiert mich und bestärkt mein Bedürfnis:

Ich beschließe, dem Tod am heutigen Sonntag Besuch in Form meiner morgendlichen Jogging-Runde abzustatten.

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Die Welt hinter den Mauern

 

Klar, mir ist durchaus bewusst, dass ich mir für meine sportlichen Aktivitäten einen – nun, ja – etwas “unkonventionellen” Ort ausgesucht habe. Auch bin ich ein wenig umsorgt, wie die Besucher des Friedhofes wohl auf meinen ungewöhnlichen Besuch reagieren werden. Platze ich gar in eine Trauergesellschaft hinein? Ist das, was ich hier zu tun gedenke, nicht genau das, was man in aller Regel als “pietätslos” bezeichnet?

Egal, ich mache das jetzt. Und bin erleichtert, als ich schon kurz nach dem Passieren des großen Eingangsportals der Grabstätte auf die ersten Menschen treffe, die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen besuchen und pflegen. Oder – ja, tatsächlich! – einfach spazieren gehen. Sie allesamt erwidern mein freundliches Nicken, manche wünschen gar einen schönen Sonntag. Puuh! 

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Die Welt indes, die sich hinter den Mauern verbirgt:

Sie erscheint mir fremd, obwohl sie dem Ort, an dem ich lebe, doch so nahe ist. Ich trabe über die endlosen und verschlungen Wege des Friedhofs. Lasse meinen Blick über Grabstätten und die vielen Bäume streifen. Ja, es fühlt sich eigentümlich an, hier zu sein. Das Laufen als Ausdruck meines Lebens inmitten der Erinnerungen an jene, denen dieses Glück nicht mehr gewährt ist.

Diese Erinnerungen, so stelle ich fest, sind teils noch frisch. Noch hell ist die Erde auf den Gräbern, noch ganz neu die darauf abgelegten Kränze. Und dann gibt es jene verwitterte Grabsteine, die aus einer gänzlich anderen Zeit zu stammen scheinen. Teils so verfallen sind, dass sie bald einzubrechen drohen.

Ich fühle mich, als liefe ich durch einen wunderschönen Park. 
Nur, dass unter den Zweigen, die unter meinen Schritten knacken, Gebeine vergraben sind. Ich schaudere.

 

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Würde es die Begrabenen wohl stören, wüssten sie, dass ich hier über sie hinweg trabe?

All meine mir vermittelten Wertvorstellungen sagen mir, dass mein Tun zutiefst pietätlos sei.. Aber warum sollten sich die Toten daran stören, wenn die Erinnerung an sie einen selbstverständlichen Platz im alltäglichen Leben der Stadt findet?

Nein, ich glaube nicht. Sollte es sie nicht viel mehr stören, dass wir Mauern um die Erinnerung an sie errichten?

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Darf ich mich hier wohl fühlen?

 

Weiterlaufen, tief einatmen. Die kalte Luft zieht kalt in meine Lunge.
Ich ärgere mich darüber, den Friedhof nie zuvor betreten zu haben.
Hinter jeder Kreuzung, an jedem Wegesrand werde ich überrascht von all den schönen Skulpturen, den ausgefallenen wie auch den schlichten Grabsteinen.

So unvorstellbar dieses Reich manchem sein mag, der von außen auf die Mauern blickt – so unvorstellbar erscheint mir gerade jene Welt des Alltags jenseits dieser Mauern. In der sich der Verkehr staut, Menschen zur U-Bahn hetzen, die gefüllten Einkaufstüten in der Hand. Big City Life as usual. 

Ich will erst später wieder Teil davon sein, ich bin gerade gerne hier. Bin fasziniert von den erhabenen Gedenkstätten an die Gefallenen des Krieges, von der Erkenntnis, dass ich mich gerade allen Ernstes auf einem Friedhof befinde. Und wohl fühle.

Gerade, als ich das Tempo nochmals erhöhe, begegne ich dann doch noch einer Trauergesellschaft. Blicke in traurige Gesichter, sehe Wangen voll Tränen.

Wäre ich den schwarz Gekleideten nicht begegnet, wäre mir wohl kaum so bewusst geworden, dass ich gerade glücklicherweise niemanden verloren habe. Dass ich noch Leben bin – und laufen kann, statt beigesetzt zu werden. Hätte ich diesen Umstand so zu schätzen gewusst, wäre ich nicht in Form der Trauergemeinde mit dem Tod konfrontiert worden? Wohl kaum.

Ich will nicht sagen, dass ich den Tod nicht fürchte. Ich will nicht sagen, dass es mir gelingen mag, den Tod auf “Augenhöhe zu betrachten”, so wie der Autor der beiden Bücher tut. Dies mag ihm angesichts seines Krebsleidens vermutlich besser gelingen als mir, so oft wie der sprichwörtliche Sensenmann bereits an seiner Türe klopfte. 

Aber:

Ich finde es schade, dass der Tod meist ausgeschlossen bleibt.
Keinen Raum findet in unserem Leben. Doch daran, dass er auch mich ereilen wird, dass ich die Zeit davor bestmöglich nutzen will:

Ja, daran mag ich mich fortan täglich erinnern.
Was Lektüre doch bewirken kann.

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Ich erspähe ein Schild. “Ein Hauch von Leben” steht darauf. Und genau der Richtung, in die es zeigt,  beschließe ich zu folgen. Wieder hinaus in den Großstadttrubel, all die Hektik, das Lachen und das Weinen.

Eben das, was man “das Leben” nennt.