Hörspiel-Liebe: Weshalb man für drei Nachwuchs-Detektive Frankfurt kurzzeitig verlassen sollte

Es gibt – nach meiner Auffassung – exakt drei legitime Gründe, unser wunderbares Frankfurt für eine Zeit lang zu verlassen. Zum Ersten wäre da das Geldverdienen, schließlich ist der Zaster dieser Welt nicht allein auf den Straßen Frankfurts verteilt. Selbst ein Leben im Einzimmerloch ist hier schließlich nicht ganz günstig und will irgendwie finanziert werden. Notfalls eben auch mit auswärtigen Geschäftsterminen.

Zum Zweiten wäre da, na klar, das Reisen: Es ist okay, sich hin und wieder ein wenig in der Welt umzuschauen. Wie soll man auch die eigene Heimat schätzen, wenn man nicht hin und wieder mal auf Reisen geht? Nachdem man erstmal einige Tage oder Wochen lang in fremden Städten abgetaucht ist, in den Meeren dieser Welt geschwommen ist oder ferne Gipfel erklommen hat, ist das Gefühl umso schöner, wieder zu Hause zu sein. Und immer wieder stellt man fest: Hey, so schlimm haben wir es in Frankfurt wahrlich nicht erwischt. Wie schön, hier leben zu dürfen.

Der dritte Grund, welcher es rechtfertigt, die Stadt unserer Herzen zu verlassen, sind: Die Drei Fragezeichen. Richtig gelesen, jawoll: Die Drei Fragezeichen. Die Drei Fragezeichen?! Doch Eines nach dem Anderen…

Der Himmel ist grau, trotzdem ist es drückend heiß. Ein Tag im Juli, ich habe es mir bequem gemacht und starre durch das Fenster hinaus auf das Gewusel der Pendler auf den Bahnsteigen.

Mit der unverkennbaren Melodie der Stromrichter setzt sich mein ICE in Bewegung. “So fühlt sich das also hinten an”, grinse ich in mich hinein und rutsche noch ein Stückchen tiefer in den blauen Sitz. Mein Ziel ist Dortmund, und noch ehe der ICE 626 den Flughafen erreicht und auf der Schnellfahrstrecke seine Höchstgeschwindigkeit von 300 Stundenkilometern erreicht haben wird (nur Fliegen ist schöner!), bin ich in meiner heilen Welt versunken. Die Welt der drei Detektive aus Rocky Beach.

Die Drei Fragezeichen und ich

Jeder braucht sein ganz eigenes Stückchen heiler Welt, und jeder findet einen solchen Rückzugsort woanders. Einen Ort, an den man flüchten kann, wenn die Welt da draußen wieder einmal kaum mehr zu ertragen ist. Und sei es nur ein fiktiver. Als Kind hatte ich mich zunächst in die Welt von TKKG geflüchtet. Die Abenteuer von Tim, Klößchen, Karl und Gabi, erzählt zwischen königsblauen Buchdeckeln. Unzählige dieser Bücher stapeln dürften sich auch heute noch in meinem Elternhaus stapeln, vom Königsblau dürfte vor Staub kaum mehr etwas zu erkennen sein.

Auch die Hörspiele der vier Abenteurer hatte ich für mich entdeckt, hatte viele fröhliche wie traurige Stunden mit einem unansehnlichen Bügel-Kopfhörer auf dem Köpfchen verbracht. Habe auf die Holzdecke über meinem Bett gestarrt so wie heute aus dem Zugfenster, habe immer wieder neue Bilder auf ihr gemalt. In Gedanken, versteht sich, und zwischendurch: Die Kassette gedreht. Warum nur war eine Seite immer genau dann zu Ende, wenn es doch am spannendsten war? Die nun folgenden Handgriffe beherrschte ich im Schlaf. “Open”; die Kassette herausgezogen, mit flinken Fingern gewendet und wieder in den Rekorder gesteckt. Klappe zu, auf “Play” gedrückt: Weiterträumen.

In meinem Heimatdorf gab es ein kleines Lädchen, “Pia’s Lädchen” um genau zu sein. Das Geschäft ist längst Geschichte, doch immer noch erinnere ich mich an die hohen Regalreihen, prall gefüllt mit Hörspielkassetten. Ein Paradies, wenn auch die Qual der Wahl mich schon damals gelegentlich überfordert hatte. Doch reichten die zehn Mark Taschengeld eben nur für eine neue Kassette oder ein neues Buch, da wollte die Kaufentscheidung wohlweislich bedacht sein. Für solche Fälle verfüge ich heutzutage zu meiner Freude und meinem Leidwesen gleichermaßen eine Kreditkarte.

Während ich meine Kinder- und Jugendzeit also komplett auf die “Profis in spe” verschwendete, ließ ich ausgerechnet die Drei Fragezeichen sträflichst außer Acht. Ein Umstand, der sich erst Jahre später ändern sollte. Viele Jahre.

Auf dem Platz mir gegenüber döst ein kleiner Junge, seine Mama daddelt auf ihrem Handy. Wie alt der Kleine wohl sein mag? Vier Jahre, fünf, vielleicht schon sechs? Jedenfalls, wieder muss ich schmunzeln, eigentlich müsste statt mir doch er sich die Bahnfahrt mit einem Hörspiel vertreiben. So eindeutig aber, so viel weiß ich mittlerweile, ist das mit der Zielgruppe bei Hörspielen längst nicht mehr. Ich jedenfalls hatte mir als guten Vorsatz für das laufende Jahr das Ziel gesteckt, meine an TKKG verlorene Jugend nachzuholen. Dass ich mittlerweile schon irgendwas-um-die-Dreißig war, sollte mich in meinem Vorhaben nicht weiter stören. Bis zum Jahresende, so schwor ich mir zum Jahreswechsel, würde ich sämtliche der zum damaligen Zeitpunkt 191 (!) existierenden Folgen der drei Fragezeichen gehört haben. Noch am Neujahrsabend fing ich damit an. Ich war den Dreien, das muss ich so klar sagen, schon bald verfallen. Vergessen waren Tim, Karl, Klößchen und Gabi. Justus, Bob und Peter waren nun der heiße Scheiß für mich, und bereits im Juni hatte ich innerhalb von nur einem halben Jahr jede Sekunde der über 30-Jährigen Geschichte der drei Nachwuchs-Detektive gehört. Hatte ein Jedes ihrer Abenteuer miterlebt, hatte mit ihnen gehofft, gebangt, gezittert, hatte mich über Justus’ permanentes Kluggescheiße aufgeregt und ihn dennoch gerade wegen dieser so sehr ins Herz geschlossen. Hatte Skinny Norris zu hassen begonnen und begehrte ein Stück von Tante Mathildas Kirschkuchen.

Draußen zieht der Westerwald vorbei, der kleine Junge döst noch immer. Und ich? Denke zurück an jenes tiefe Loch, in welches ich zu fallen schien, nachdem ich die Abenteuer der Drei Detektive, nun ja, gewissermaßen “ausgehört” hatte. Ich hatte doch tatsächlich gar nicht bemerkt, wie sie mir längst ein liebes Stückchen Alltag geworden waren. Was also tun? Eine Bewerbung als Synchronsprecher bei SONY BMG als Produzentin der Hörspielserie verlief leider erfolglos. Ich habe keine Sprecherausbildung, hieß es im Antwortschreiben des Konzerns, da könne man nix machen. Als kleines Trostpflaster legte man der Absage eine Autogrammkarte der Synchronsprecher bei, na immerhin. Ich jedoch konnte etwas machen: Mir die Wartezeit auf neue Folgen mit den gleichnamigen Adventure-Spielen vertreiben, beispielsweise. Oder aber auch: Mit dem ICE nach Dortmund fahren. Denn dort findet heute – drei Tage vor der Veröffentlichung der nunmehr 194. Folge “Die drei ??? und die Zeitreisende” die zugehörige Record Release Party statt.

Sprich: Ein Haufen Hörspielverrückter kommen zusammen, um gemeinsam schon vorab der neuen Folge ihrer Helden zu lauschen. Ein solches Treffen findet pünktlich kurz vor der Veröffentlichung einer jeden neuen Folge statt und wird von der “Lauscherlounge” organisiert. Diese ist ein Projekt von Sprecher Oliver Rohrbeck, der dem ersten Detektiv schon als Kind seine Stimme geliehen hat. Während Justus Jonas nie gealtert ist und über die Jahrzehnte Kind geblieben ist, sind die Jahrzehnte an Rohrbeck nicht spurlos vorbeigezogen: 53 Jahre ist der Berliner heute alt. Mit seiner Stimme sind Generationen großgeworden, kaum eine dürfte im deutschen Sprachraum über einen ähnlichen Bekanntheitsgrad verfügen.

Wir erreichen Köln. In meinen Gehörgängen sucht Justus Jonas seine eigentlich tödlich verunglückten Eltern, die Mutter des Kleinen tippt immer noch auf ihrem Handy herum. Dabei wirkt sie ein wenig hilflos. Ich merke, wie ich aufgeregt werde. Nicht nur, dass ich Rohrbeck persönlich treffen und sprechen hören werde. Vielmehr frage ich mich: Wie mag wohl der durchschnittliche Besucher eines “Public Listenings” eines Kinderhörspiels sein? Ich ahne, dass die eigentliche Zielgruppe – die Kinder – eine Minderheit bilden werden. Noch während die Türen sich schließen und der ICE weiter in Richtung Ruhrpott rollt, verwette ich meinen straffen Hintern darauf, dass ich mit Abstand nicht der Jüngste sein werde in der Halle unweit des Dortmunder Hauptbahnhofs. Ein Großteil der Besucher, da bin ich mir sicher, werden sein wie ich: Längst erwachsen, längst angekommen im Leben. Mittendrin in dessen Freuden, Widrigkeiten, Höhen, Tiefen, Pflichten,Leiden. Kassetten-Kinder wie ich, welche die Helden ihrer Kindheit im Kassettenkoffer mit hinein in ihr Erwachsenendasein getragen haben. Sich das kleine Mädchen und den kleinen Jungen zumindest innerlich bewahrt haben, auch wenn sie ihre heile Welt mittlerweile eher auf Spotify denn auf Musikkassetten finden dürften. Zu meiner Linken zieht der Kölner Dom vorbei. Ich bekomme Hunger auf Bandsalat. Nicht mal mehr eine Stunde bis in die Borussenstadt.

 

Wenn T-Shirts noch ganz harmlos sind

Mit obligatorischen zehn Minuten Verspätung stoppt der Zug und spuckt mich hinaus in die Nachmittagshitze der Ruhrpott-Metropole. Hey, Dortmund – schön, dich mal wieder zu sehen! Alles gut bei dir? Mit Dortmund verbindet mich viel, in jedem Winkel kleben Erinnerungen fest. Ich hatte eine gute Zeit hier, mag die Stadt bis heute sehr. Liebe den grauschwarzen Putz auf den Fassaden ihrer Arbeitersiedlungen, liebe die Relikte einer von Ruß bedeckten Ära. Liebe den weitläufigen Westfalenpark, liebe das bunte Blütenmeer des Rombergparks. Liebe die schmutzigen Straßen, die unverblümte Herzlichkeit der Menschen. Dortmund, du bist nicht Frankfurt. Und das ist gut so.

Doch bin ich heute nicht hier, um im Park zu spazieren oder mich in einer der vielen Eckkneipen niederzulassen. Ich bin hier wegen der drei Jungs aus Rocky Beach – und ich bin nicht alleine: Schon auf dem Bahnhofsvorplatz begegne ich ersten T-Shirts mit dem Logo der drei Fragezeichen. Ich frage mich, ob ich überhaupt adäquat genug gekleidet bin. Noch kann ich nicht ahnen, dass Fan-Shirts noch eine recht dezente Sympathiebekundung für die Hörspiele darstellen sollten.

Bis zur Kulturhalle FZW ist es nicht weit. Eine halbe Stunde vor Beginn tummelt sich bereits eine Horde Fans vor dem Einlass, kaum jemand scheint jünger als ich. Ein kurzes Raunen geht durch die Menge, als eine junge Frau mit grünen Haaren vorfährt. Ihr Auto ist geschmückt von Motiven aus der Welt der “Fragezeichen”. Ich bin baff. Schnell bin ich mit ihr im Gespräch, gern darf ich ein Foto von ihrem Fanmobil machen. Wenn du das hier lesen solltest, Katrin: Viele liebe Grüße aus Frankfurt! Die Fußmatten im Innenraum sind mit drei Fragezeichen bestickt. “Hab’ ich selbst gemacht!”, sagt sie. Dass auch die Gurtpolster mit drei Fragezeichen versehen sind und in den Seitenfenstern die Visitenkarte der “Drei” steckt, wundert mich da kaum mehr. Sie fährt nicht nur ein abgefahrenes Auto, auch ihr Turnbeutel ist bemerkenswert. “Ich wandere aus nach Rocky Beach!”, ich muss herzlich lachen. Verrückte Welt!

Wir plauschen noch ein bisschen im Schatten des berühmten “U”, dann geht’s hinein.Direkt im Eingangsbereich befindet sich das, was man bei Konzerten wohl als Merchandising-Stand bezeichnen würde. Erste Anlaufstelle für eingefleischte Fans, hier gibt’s neben T-Shirts tatsächlich auch noch Kassetten und Vinyl. “Ich hab’ die erste Auflage der Pressung von ‘Im Zeichen der Ritter’, trotz Kratzer noch 200 Euro wert!”, ich vernehme Fachgesimpel. Quatsche mich auch hier ein wenig durch, bevor ich nochmal Pipi mache und mir einen Platz in der Halle suche.

Zunächst staune ich nicht schlecht:
Viel mehr Menschen als ich dachte haben ihren Weg in den unscheinbaren Bau in der Nähe des Hauptbahnhofs gefunden. Ein erster, flüchtiger Check ergibt: Die meisten dürften in meinem Alter sein, Kinder dagegen sehe ich nur wenige. Ich habe mal wieder mehr Glück als Verstand und finde inmitten der bereits vollbesetzten Stuhlreihen noch einen freien Platz in der dritten Reihe. Auch hier bin ich schnell im Gespräch. Mein Nebenan hat die Schallplattensammlung seiner Tante geerbt. Darunter, wie kann es auch anders sein: Jede Menge ??? auf Vinyl. Er staunt nicht schlecht, als ich erzähle, dass ich eigens aus Frankfurt angereist bin. “Da war ich nur ein einziges Mal”, sagt er. “Viele Hochhäuser – und es soll verdammt teuer sein dort!” Ich nicke stumm und denke mir meinen Teil.

 

Ein Sinn zuviel

Das Licht geht aus, unter lautstarkem Geklatsche betritt der Star des Abends die Bühne: Oliver Rohrbeck, seit 1979 Stimme des “ersten Detektivs” Justus Jonas. Er ist kleiner, als ich erwartet hätte. Bereits sein “Guten Abend, Dortmund!” lässt mich zusammenzucken – unweigerlich ordnet mein Oberstübchen seine Stimme dem adipösen Detektiv zu. Dass statt Justus Jonas aber gerade ein 53-jähriger Glatzenträger spricht, ist eigenartig. Rohrbeck begrüßt die amtlich mehr als 600 angereisten Fans. Ich frage mich, wie viele der Silhouetten im Saal eine noch weitere Anreise auf sich genommen haben mögen. Rohrbeck gibt ein paar Anekdoten aus dem Aufnahmestudio im Hamburger Anwesen von Produzentin und Hörspiel-Königin Heikedine Körting zu Besten. In diesem entstehen, nebenbei bemerkt, auch die TKKG-Hörspiele.

Bevor wir ein exklusives Pre-Listening der neuesten Folge erfahren dürfen, gibt sich auch Rohrbeck schon ganz gespannt: “Ich erinnere mich an nichts mehr!”, behauptet er und erntet damit einige Lacher. Zwischen den Aufnahmen und dem heutigen Tag läge immerhin ein halbes Jahr. Nun könne es aber losgehen. Und das tut es auch. Applaus brandet auf und begleitet das berühmte Intro. Es ist ein merkwürdiges Gefühl: 600 Menschen sitzen in einer Halle und starren auf eine leere Bühne. Leer bis auf Rohrbeck, der es sich einem schwarzen Ledersessel bequem gemacht hat. 600 Menschen sitzen also da und tun nichts, als hörenderweise einer Geschichte zu folgen. Mein Nebenmann bringt die skurrile Situation auf den Punkt: „Ich glaube, ich habe gerade einen Sinn zu viel!“, flüstert er mir zu. Ich kann ihm nur recht geben.

Ich beschließe, meinen Sehsinn kurzzeitig zu eliminieren und schließe meine Augen. Unweigerlich malt mein Kopf bunte Bilder zum Gehörten. Vielleicht liebe ich Hörspiele wie Bücher deswegen: Sie erlauben meiner Phantasie, frei zu sein. Von Filmen dagegen fühlt sie sich beleidigt.

Nur hin und wieder öffne ich für einen kurzen Moment die Augen, betrachte den Mann auf dem Ledersessel, dessen Stimme bekannter ist als sein Gesicht. Die Vorstellung, dass Justus Jonas‘ Worte, denen ich folge, eigentlich seine sind, wirkt unglaublich.

Über den Inhalt des Gehörten mag ich mich an dieser Stelle freilich nicht äußern. Niemandem soll die Spannung und Freude auf die neue Folge genommen werden!

Nach 75 Minuten und einem verblüffenden Ende schüttele ich mich. Erstaunlich, wie sehr ich einmal wieder die Welt um mich herum vergessen konnte. Abermals Applaus, auch Rohrbeck scheint zufrieden mit dem jüngsten Streich der Detektive. „Es gibt ja solche und solche Folgen“, resümiert er. „Diese hier war eine solche.“

Zeit für eine Pause. Frische Luft, zwei hastig gerauchte Zigaretten. Das nächste Highlight steht bevor.

Schon Tradition bei den „Record Release Parties“ sind die Mitmach-Hörspiele. Auch dieses Mal werden einige Zuschauer von Rohrbeck ausgewählt, um auf der Bühne eine Sprecherrolle zu übernehmen. Der Name der heutigen Folge: „Die drei Fragezeichen und das Spiel ohne Regeln“. Die Kurzgeschichten werden aufgezeichnet und anschließend als Podcast zur Verfügung. Rohrbeck instruiert zunächst die Freiwilligen. “Die wissen meistens gar nicht, wie nahe man an so ein Mikrofon heran muss!”. Ich grinse, musste ich einst auch lernen. Die Technik will nicht so wie Rohrbeck will, man fängt noch mal von Neuem an. Der Freude, zuzuschauen, tut das keinen Abbruch.

Die sechs Auserwählten geben sich redlich Mühe. Ich finde gar, dass sich der heutige Sprecher des Chauffeurs Morton viel mehr nach Morton anhört als der echte Morton. “Sehr wohl, die Herren!”

Ich bin verwirrt. Am liebsten beobachte ich aber Rohrbeck in seiner Rolle als Justus Jonas. In ihr, das merkt man, fühlt er sich sicher. Er unterstreicht Justus‘ Sätze gern mit Blicken und Gesten. Statt sie zu spielen, lebt er seine Rolle. Quasi ganz nebenbei bedient er ein überdimensionales Soundboard, um die Hörspiel-Szenerie mit Geräuschen zu unterstreichen und die Stimmen mit Effekten zu belegen. Klar, dass ein Telefonanrufer auch so klingen muss, als spreche er durch eine Hörermuschel!

Fast ein wenig traurig – doch ich komme wieder!

Zum Abschluss gibt’s noch eine Tombola. Ich gewinne nichts, doch bin nicht enttäuscht – denn gewonnen hab’ ich ohnehin, nämlich die Erfahrung, dass ich mit meiner kleinen “Macke” nicht allein bin. Zum ersten Mal saß ich gemeinsam mit hunderten Vollblut-Erwachsenen in einer Halle, die sich ihre heile Hörspielwelten niemals haben nehmen lassen. Solange die Phantasie noch lebt, ist kein Kampf verloren!

Und so bin ich fast ein wenig traurig, als das Licht angeht und sich die Reihen lichten. Auch für mich heißt es nun, Abschied zu nehmen – vorerst zumindest. Am Bahnhof kaufe ich mir noch ein Exportbier für die Heimreise im Nachtzug. Normalerweise trinke ich kein Bier, doch in Dortmund, da gehört das so. Und Apfelwein gibt’s dort eh nicht.

Als ich im Sitzpolster versunken bin und die Laternen der schwarzen Provinzbahnsteige vorbeihuschen sehe, freu’ ich mich schon jetzt auf die nächste “Record Release Party”. In zwei Monaten wird Folge 195 erscheinen, und ich werde dafür nach Berlin reisen. “In Kürze erreichen wir Bochum”, ich öffne meine Flasche Exportbier. Ich nehme einen Schluck, krame meine Kopfhörer aus dem Rucksack. Noch knapp vier Stunden bis Frankfurt. Das langt für drei Folgen. Auf der anderen Seite des Intercity-Wagens sitzt ein junges Mädchen und starrt auf ein vor ihr aufgeklapptes Tablet. Offensichtlich schaut sie eine Serie. “Soll die Jugend von heute mal machen”, denk’ ich mir. Ich gebe weiterhin nichts auf Bewegtbilder und setze weiterhin auf meine Hörspiele.

Als die Titelmelodie der “Fragezeichen” ertönt, breitet sich ein Grinsen in meinem Gesicht aus. Wenig später bin ich weg. Im Halbschlaf höre ich Justus klugscheißen. Hin und wieder erscheint Oliver Rohrbeck in meinem Kopf.

Laufen über Stock und Grabstein.

In meinem jüngsten “Lesestoff”-Artikel, in dem ich euch die beiden Bücher “Club der roten Bänder” sowie “Club der blauen Welt” vorstelle, hatte ich es bereits erwähnt: 

Die Lektüre der beiden Bücher hat etwas in mir bewegt. Etwas ausgelöst, mir ein Bewusstsein geschaffen. Mich an etwas doch eigentlich Selbstverständliches zurück erinnert:

Das eigene Leben ist endlich.

Eine simple Tatsache, die ich, vielleicht wir alle, nur allzu gern verdrängen. Ist das nicht eigentlich schade? Wie soll man auch das Leben schätzen, feiern und genießen, ohne die Existenz des Todes als Gegengewicht anzuerkennen?

fullsizerender

 

Wir errichten Mauern um den Tod

 

Und während mich diese Gedanken um das Leben und den Tod als Nachhall der Lektüre umtreiben, während ich feststelle, wie achtlos auch ich bisher mit dem Tod umging, drängen sich mir Fragen auf.

Ich lebe im Nordend, fast täglich passiere ich die hohen Mauern des hier befindlichen Frankfurter Hauptfriedhofs. Einen Gedanken daran, wie es dahinter ausschauen könnte – den hatte ich bislang allerdings noch nie verschwendet.

Warum eigentlich? Warum verschließen wir die Augen so sehr vor dem Tode, dass wir sogar seine Heimat mit hohen Mauern umschließen? Als wäre es äußerst unangenehm, nur ein notwendiges Übel, ihm Platz im Raum unserer Stadt zu gewähren zu müssen?

Wieso weiß sogar ein sonst so an unserer Stadt interessierter, neugieriger junger Mensch wie ich nicht, wie es auf dem riesigen Areal hinter den hohen Mauern aussieht? Nein, eine Antwort darauf finde ich zunächst nicht.

Doch einen Blick riskieren hinter die hohen Mauern, das möchte ich. Möchte auch dem Tod Platz in meinem Bewusstsein geben, möchte ihm auch während ich lebe begegnen.

 

hauptfriedhof-2

 

Joggen statt Trauern

 

Ist es nicht irgendwie bescheuert, dass so viele von uns Friedhöfe nur dann aufsuchen, wenn ein lieber Mensch verstorben ist? Wir sind doch allesamt froh, diesen Ort nach der Bestattung möglichst schnell wieder verlassen zu können – und hoffen anschließend, ihn so bald nicht wieder aufsuchen zu müssen.

Warum konfrontieren wir uns nur dann mit diesem Ort, wenn wir einen Mitmenschen verloren haben? Das erscheint mir nun etwas unverständlich. Man sollte den Tod doch zumindest hin und wieder mal kurz grüßen, um ihn nicht zu vergessen. Und das möchte ich nun tun.

“Hallo auch, Tod – ich weiß, dass du auch mich irgendwann ereilst. Aber gerade deswegen möchte ich mein Leben hier genießen, lass’ dir gern noch ein wenig Zeit. ‘nen schönen Sonntag noch!”

Dass ich ausgerechnet heute davon lese, dass die Zahl der Krebs-Neuerkrankungen in Deutschland stark gestiegen ist, schockiert mich und bestärkt mein Bedürfnis:

Ich beschließe, dem Tod am heutigen Sonntag Besuch in Form meiner morgendlichen Jogging-Runde abzustatten.

hauptfriedhof-1

 

Die Welt hinter den Mauern

 

Klar, mir ist durchaus bewusst, dass ich mir für meine sportlichen Aktivitäten einen – nun, ja – etwas “unkonventionellen” Ort ausgesucht habe. Auch bin ich ein wenig umsorgt, wie die Besucher des Friedhofes wohl auf meinen ungewöhnlichen Besuch reagieren werden. Platze ich gar in eine Trauergesellschaft hinein? Ist das, was ich hier zu tun gedenke, nicht genau das, was man in aller Regel als “pietätslos” bezeichnet?

Egal, ich mache das jetzt. Und bin erleichtert, als ich schon kurz nach dem Passieren des großen Eingangsportals der Grabstätte auf die ersten Menschen treffe, die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen besuchen und pflegen. Oder – ja, tatsächlich! – einfach spazieren gehen. Sie allesamt erwidern mein freundliches Nicken, manche wünschen gar einen schönen Sonntag. Puuh! 

fullsizerender2

 

Die Welt indes, die sich hinter den Mauern verbirgt:

Sie erscheint mir fremd, obwohl sie dem Ort, an dem ich lebe, doch so nahe ist. Ich trabe über die endlosen und verschlungen Wege des Friedhofs. Lasse meinen Blick über Grabstätten und die vielen Bäume streifen. Ja, es fühlt sich eigentümlich an, hier zu sein. Das Laufen als Ausdruck meines Lebens inmitten der Erinnerungen an jene, denen dieses Glück nicht mehr gewährt ist.

Diese Erinnerungen, so stelle ich fest, sind teils noch frisch. Noch hell ist die Erde auf den Gräbern, noch ganz neu die darauf abgelegten Kränze. Und dann gibt es jene verwitterte Grabsteine, die aus einer gänzlich anderen Zeit zu stammen scheinen. Teils so verfallen sind, dass sie bald einzubrechen drohen.

Ich fühle mich, als liefe ich durch einen wunderschönen Park. 
Nur, dass unter den Zweigen, die unter meinen Schritten knacken, Gebeine vergraben sind. Ich schaudere.

 

fullsizerender1

 

Würde es die Begrabenen wohl stören, wüssten sie, dass ich hier über sie hinweg trabe?

All meine mir vermittelten Wertvorstellungen sagen mir, dass mein Tun zutiefst pietätlos sei.. Aber warum sollten sich die Toten daran stören, wenn die Erinnerung an sie einen selbstverständlichen Platz im alltäglichen Leben der Stadt findet?

Nein, ich glaube nicht. Sollte es sie nicht viel mehr stören, dass wir Mauern um die Erinnerung an sie errichten?

fullsizerender2

 

Darf ich mich hier wohl fühlen?

 

Weiterlaufen, tief einatmen. Die kalte Luft zieht kalt in meine Lunge.
Ich ärgere mich darüber, den Friedhof nie zuvor betreten zu haben.
Hinter jeder Kreuzung, an jedem Wegesrand werde ich überrascht von all den schönen Skulpturen, den ausgefallenen wie auch den schlichten Grabsteinen.

So unvorstellbar dieses Reich manchem sein mag, der von außen auf die Mauern blickt – so unvorstellbar erscheint mir gerade jene Welt des Alltags jenseits dieser Mauern. In der sich der Verkehr staut, Menschen zur U-Bahn hetzen, die gefüllten Einkaufstüten in der Hand. Big City Life as usual. 

Ich will erst später wieder Teil davon sein, ich bin gerade gerne hier. Bin fasziniert von den erhabenen Gedenkstätten an die Gefallenen des Krieges, von der Erkenntnis, dass ich mich gerade allen Ernstes auf einem Friedhof befinde. Und wohl fühle.

Gerade, als ich das Tempo nochmals erhöhe, begegne ich dann doch noch einer Trauergesellschaft. Blicke in traurige Gesichter, sehe Wangen voll Tränen.

Wäre ich den schwarz Gekleideten nicht begegnet, wäre mir wohl kaum so bewusst geworden, dass ich gerade glücklicherweise niemanden verloren habe. Dass ich noch Leben bin – und laufen kann, statt beigesetzt zu werden. Hätte ich diesen Umstand so zu schätzen gewusst, wäre ich nicht in Form der Trauergemeinde mit dem Tod konfrontiert worden? Wohl kaum.

Ich will nicht sagen, dass ich den Tod nicht fürchte. Ich will nicht sagen, dass es mir gelingen mag, den Tod auf “Augenhöhe zu betrachten”, so wie der Autor der beiden Bücher tut. Dies mag ihm angesichts seines Krebsleidens vermutlich besser gelingen als mir, so oft wie der sprichwörtliche Sensenmann bereits an seiner Türe klopfte. 

Aber:

Ich finde es schade, dass der Tod meist ausgeschlossen bleibt.
Keinen Raum findet in unserem Leben. Doch daran, dass er auch mich ereilen wird, dass ich die Zeit davor bestmöglich nutzen will:

Ja, daran mag ich mich fortan täglich erinnern.
Was Lektüre doch bewirken kann.

{"total_effects_actions":0,"total_draw_time":0,"layers_used":0,"effects_tried":0,"total_draw_actions":0,"total_editor_actions":{"border":0,"frame":0,"mask":0,"lensflare":0,"clipart":0,"square_fit":0,"text":0,"shape_mask":0,"callout":0},"effects_applied":0,"uid":"A6FF0E37-EB0F-46B3-BE97-1F400670E374_1480261030456","width":2985,"photos_added":0,"total_effects_time":0,"tools_used":{"tilt_shift":1,"resize":0,"adjust":0,"curves":0,"motion":0,"perspective":0,"clone":0,"crop":0,"flip_rotate":0,"selection":0,"enhance":0,"free_crop":0,"shape_crop":0,"stretch":0},"source":"editor","origin":"gallery","height":1801,"subsource":"done_button","total_editor_time":3,"brushes_used":0}

Ich erspähe ein Schild. “Ein Hauch von Leben” steht darauf. Und genau der Richtung, in die es zeigt,  beschließe ich zu folgen. Wieder hinaus in den Großstadttrubel, all die Hektik, das Lachen und das Weinen.

Eben das, was man “das Leben” nennt.