Über sechs Jahre hinweg wurde auf dem Gelände des ehemaligen technischen Rathauses gebaggert, gewerkelt und getüftelt. Knapp 200 Millionen Euro wurden investiert, um an Stelle des brutalistischen Ungetüms mit 35 originalgetreuen Neubauten der Stadt Frankfurt ihr historisches Herz zurück zu geben.
Nachdem schon im Mai 2018 die Bauzäune gefallen sind und die neue Altstadt für die Öffentlichkeit freigegeben wurde, fand die große Sause zu deren nun-aber-wirklich-ganz-offiziellen Eröffnung am letzten Septemberwochenende statt.
Neben einem Musikprogramm auf zwei Bühnen, diversen Ausstellungen in dem Areal benachbarten Institutionen und den üblichen Fress- und Saufbuden sollte eine bislang nie dagewesene Drohnen-Show zwischen Eisernem Steg und Untermainbrücke den Höhepunkt der Feierlichkeiten bilden. Etwa 350.000 Euro wurden abermals investiert, um 110 Drohnen ein Lichtspektakel in den Frankfurter Nachthimmel zu zaubern. Klar, dass auch ich mir dieses nicht entgehen lassen wollte!
Es ist schon halb zehn am Abend, noch eine Viertelstunde bis zum offiziellen Beginn der Drohnen-Show. Zuvor hatte ich bereits versucht, mich vor den Bühnen und in den engen Gassen der neuen Altstadt zu amüsieren. Mit zweifelhaftem Erfolg: Ein derartiges Gedränge war mir bislang allenfalls vom Museumsuferfest bekannt; aufgrund des exorbitanten Stress-Levels war ich kurzerhand zum Wasserhäuschen “FEIN” geflüchtet und hatte noch einige Espresso getrunken, um mir die Zeit auf ganz und gar entspannte Art und Weise zu vertreiben.
Nun aber stehe ich mit meinem Freund Boris irgendwo am Sachsenhäuser Mainkai, dicht an dicht gedrängt mit anderen Neugierigen.
Auf Bewegungsfreiheit, das ist mir klar, darf ich immer noch nicht hoffen. “Scheiße, ich hab’ meine Pizza vergessen!”, mein Kumpel deutet auf einen Mann in Jeansjacke, der sich die Wartezeit bis zum Abflug der Drohnen mit dem Leeren seines dampfenden Pizzakartons vertreibt.
Links brüllt ein kleiner Frankfurter auf den Schultern seines Papas, von hinten dröhnen Lautsprecherdurchsagen der Polizei: “Fahren Sie sofort weiter! Wer hier mitten auf der Straße parkt, wird abgeschleppt!”. Eine Hintergrundkulisse, die einer angebrachten Sentimentalität eher hinderlich ist.
“Wenn ich an Frankfurt denke, denke ich an Goethe. An Apfelwein, den Römer, die glitzernde Skyline…”
Zeitgleich mit den den Nachthimmel zerreißenden Scheinwerfern beginnt die akustische Untermalung der Show. Allenthalben werden Smartphones gezückt, eine Krankheit der Neuzeit. Die Drohnen heben ab, sausen zunächst im Schutze der Dunkelheit weit hoch über den Main, formieren sich zu recht eindrucksvollen Motiven. Das U-Bahn-Zeichen, die Waage der Justitia, Goethe und der Struwwelpeter. Als die Fluggeräte den Europa-Pokal der Eintracht formen, brandet Jubel über die Mainufer.
Das, finde ich, ist schon recht nett anzusehen. Doch so richtig flashen will mich diese Darbietung nicht.
Das mag vielleicht daran liegen, dass wir Frankfurter in Sachen Lichtspektakeln schon außerordentlich verwöhnt sind – man denke nur an das jährliche Feuerwerk des Museumsuferfests oder die unvergessene Laser-Show zum 25. Tag der Deutschen Einheit im Herbst 2015. Vereinzelt wird geklatscht, ich klatsche eifrig mit – aber: Berühren tut mich das Gesehene kaum.
Kurz fühle ich mich ein wenig schlecht und undankbar:
Hey, fährt meine Stadt nicht gerade alle Geschütze auf, um mich mitzureißen? Ist dies hier nicht gerade jener epochale Moment, von dem ich noch meinen Enkeln erzählen werde, wenn ich mit ihnen durch die Straßen der Altstadt spazieren werde?
Vielleicht liegt es ganz einfach daran, dass die Baustelle der Altstadt über die Jahre hinweg nicht hinter einem Vorhang stattgefunden hat, sondern dass die Bauzäune und wachsenden Fassaden über die Jahre hinweg wie selbstverständlich zum Frankfurter Alltag gerieten. Vielleicht auch daran, dass heute eben doch nicht der “Tag X” ist, weil schon fünf Monate zuvor das Gelände “unter der Hand” an die Öffentlichkeit übergeben wurde, weil schon im Mai Oberbürgermeister Feldmann den Krönungsweg beschritten hatte, weil er schon damals seine – Achtung, ich liebe dieses Wort! – Amtskette getragen hatte. Vielleicht, weil ich die Straßenzüge der neuen, alten Stadt schon längst aus dem Effeff kenne und der Reiz des neuen Viertels ein wenig totdiskutiert wurde.
Ein Disneyland für Touristen, ein Viertel, das einst ein Elendsort gewesen sei, dem doch nicht nachgeeifert werden dürfe. Steuergeldverschwendung, Wohnungen allein für Bestensverdienende. Alles tausendmal gelesen, alles tausendmal gehört.
Aber dennoch:
Die Straßenzüge des nicht einmal einen halben Quadratkilometer umfassenden Viertels werden fortan zu dieser Stadt gehören, ihr Pflaster wird noch viele Sohlen küssen. Die neue Altstadt, sie ist von nun an Teil meiner Heimatstadt, ab heute, zumindest offiziell.
Doch kommt mir die Auswahl des heutigen Datums ein wenig willkürlich vor, so, als hätte sich ein Pärchen im Nachhinein auf einen Tag ihres Zusammenkommens geeinigt. Ich hätte wirklich gerne meinen Nachkommen vom heutigen, großen Tag berichtet – was aber bleibt, sind die Drohnen, die nach nicht einmal zwanzig Minuten zum Landeanflug ansetzen. Die Willkommensgrüße in mehreren Sprachen, beschlossen vom hiesigen “Ei, Gude!”
Die Pizza des Nebenmanns ist aufgegessen, die gesetzwidrigen Straßenparker haben sich entfernt. Die Altstadt ist – nun aber wirklich! – eröffnet und fortan Teil meiner Heimat, ich blicke in das Gesicht meines Freundes Boris. “Und jetzt?” – der Abend ist schließlich gerade einmal angebrochen. “Jetzt trinken wir Bier!”, sagt Boris. “Oder auch einen Apfelwein”, füge ich hinzu. Wir marschieren davon in Richtung Alt-Sachsenhausen. Auch dieses Viertel gehört seit jeher zur Stadt. Wann und unter welchen Umständen es wohl eröffnet worden sein mag?
Ich habe keine Ahnung, will mir aber auch keine Gedanken darüber machen. Noch während wir in der Wallstraße verschwinden wünsche ich mir, dass es auch der neuen Altstadt so ergehen mag. Mögen auch meine Enkel Frankfurts jüngstes Viertel als selbstverständlichen Bestandteil ihrer Stadt betrachten und sich an ihm freuen. Darauf einen Apfelwein.